Schneller reisen als der Schall. Vor einem halben Jahrhundert galt das als chic, viele Konstrukteure ziviler Flugzeuge wollten die magische Grenze von Mach 1 überwinden. Die sowjetische Tu-144 schaffte das 1968, kurz darauf die französisch-britische Concorde; der US-Hersteller Boeing scheiterte an seinem Ziel, ein besonders großes und schnelles Überschallflugzeug für 300 Passagiere zu bauen.

Das erste und bisher auch letzte Überschallflugzeug im Linienflugverkehr war die Concorde.

Seit dem letzten Flug einer Concorde 2003 – drei Jahre nach einem Absturz der Air France 4590 – durchbrechen nur noch Militärpiloten die Schallmauer, der Wettbewerb um hohes Tempo schien nicht mehr zeitgemäß. Doch das ändert sich gerade. Seit Jahren arbeiten Firmen an neuen Flugzeugen, die im Passagierflugbetrieb über Mach 1 kommen. Noch in diesem Jahrzehnt sollen einige Modelle marktreif sein: leiser, sparsamer und betrieben mit Ökosprit, um den gängigen Kritikpunkten etwas entgegenzusetzen.

Neuentwicklung

Eine führende Rolle im Wettbewerb hat das US-Unternehmen Boom Supersonic. Dessen Entwurf namens Overture soll mit Mach 2,2 – etwas schneller als die Concorde – fliegen. Die Maschine soll bis zu 75 Passagiere aufnehmen und wäre das schnellste Verkehrsflugzeug der Welt. Japan Airlines und die Virgin Group haben 20 beziehungsweise zehn Maschinen vorbestellt. Bevor sie fliegt, will Boom mit dem Demonstrator XB-1 – etwa ein Drittel so groß wie Overture – die nötigen Technologien testen und weiterentwickeln.

Vorgestellt wurde XB-1 Anfang Oktober, für das nächste Jahr ist der Erstflug geplant. Dann wird sich zeigen, ob das Design funktioniert und ob die Materialien den enormen Belastungen standhalten. Bei 2,2-facher Schallgeschwindigkeit werden sich einzelne Teile des Flugzeugs auf bis zu 150 Grad Celsius erhitzen, schätzt Boom.

Bernd Liebhardt vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Hamburg ist skeptisch, ob Boom mit Overture tatsächlich Mach 2,2 erreichen wird. "Ein entscheidender Punkt für neue Flugzeuge ist das Triebwerk", sagt er. Grob geschätzt koste dessen Entwicklung so viel wie der Rest des Flugzeugs.

Daher werde es in der Regel von einem Hersteller zugekauft, etwa von Rolls-Royce oder Pratt & Whitney. "Solche Kooperationen gehen Hersteller aber nur ein, wenn sie einen ausreichend großen Markt sehen." Aktuell gibt es laut Liebhardt kein Triebwerk aus der Zivilsparte, das Overture auf Mach 2,2 bringen kann. Bleibt daher nur eine Neuentwicklung oder eine umfangreiche Anpassung. Diesen Weg will das US-Start-up jetzt mit Rolls-Royce probieren. Im August 2020 gaben sie eine Vereinbarung bekannt, gemäß der man gemeinsam nach einem möglichen Antriebssystem suchen wolle.

Eine führende Rolle im Wettbewerb hat das US-Unternehmen Boom Supersonic. Dessen Entwurf namens Overture soll mit Mach 2,2 – etwas schneller als die Concorde – fliegen.
Boom Supersonic

Bekanntes Triebwerk

Liebhardt rechnet daher Aerion höhere Chancen aus. Das Unternehmen aus Florida kooperiert mit General Electric und nutzt ein Triebwerk, das bereits in zahlreichen Maschinen von Boeing und Airbus verbaut ist. Aerion strebt auch nicht Mach 2,2 an, sondern nur die 1,4-fache Schallgeschwindigkeit. Und die Maschine namens AS2 ist nicht für den Linienbetrieb vorgesehen, sondern als Geschäftsreiseflugzeug. 2024 soll sie flugfähig sein und Ende des Jahrzehnts auf den Markt kommen.

Aerion will CO2-neutrale Flüge ermöglichen und strebt hierfür eine Zertifizierung für den Betrieb mit Biotreibstoffen an. Technisch sollte dies keine Probleme machen, heißt es. Ob Kunden tatsächlich den teureren Ökosprit kaufen oder das preiswertere Standardkerosin, ist eine andere Frage. Zumal der Verbrauch deutlich höher sein wird als in Unterschallflugzeugen, die in den vergangenen Jahren erheblich effizienter geworden sind.

Preisaufschlag beim Treibstoff

Andererseits: Der Preisaufschlag beim Treibstoff relativiert sich, wenn man die Anschaffungskosten von rund 120 Millionen Dollar betrachtet. Aerion-Chef Tom Vice rechnet laut Medienberichten mit einem Marktpotenzial von 300 Maschinen binnen zehn Jahren. "Ich glaube nicht, dass Menschen wie in einer Konservendose zusammengepfercht 20 Stunden lang in 35.000 Fuß Höhe verbringen wollen", sagte er CNBC. Der Markt der Businessflieger sei reif für eine Disruption, in den vergangenen 60 Jahren habe sich die Geschwindigkeit der Maschine nur um zehn Prozent erhöht.

Die AS2 soll die Schallmauer durchbrechen, aber so, dass man am Boden nichts davon mitbekommt. Dahinter verbirgt sich das Mach-Cut-off-Prinzip. Der Überschallknall hängt nicht nur von der Geschwindigkeit des Fliegers ab, sondern auch von etlichen anderen Parametern, etwa der Lufttemperatur. Das macht man sich beim Mach-Cut-off zunutze: Ist die Maschine nur knapp über der Schallgeschwindigkeit und fliegt hoch genug, gibt es zwar einen Knall, aber der erreicht nicht den Boden.

Die AS2 von Aerion soll die Schallmauer durchbrechen, aber so, dass man am Boden nichts davon mitbekommt.
Aerion Supersonic

Die physikalischen Grundlagen werden seit Jahren von der Nasa erforscht. Bisher ist nämlich der Überschallflug wegen des Schallknalls nur über dem offenen Meer erlaubt und nicht über dem Festland. Eine schnelle Querung der USA jedoch, etwa von New York nach Los Angeles, geht nun einmal nur über Land. Gelingt es den Fachleuten, die Belästigung durch den Schallknall zu reduzieren und eine Genehmigung für Überschallflüge zu erhalten, würde das dem Fluggeschäft sicher zuträglich sein.

Den Knall entschärfen

Eine Option, den Knall zu entschärfen, besteht darin, ihn in seiner geometrischen Ausbreitung zu verlängern. Das Flugzeug wird gestreckt mit langer Nase und Konus am Heck, erläutert DLR-Forscher Liebhardt. "Das verlängert die Dauer des Signals, statt eines kurzen intensiven Knalls gibt es ein langgezogenes ‚Boom‘, ähnlich dem Zuschlagen einer Autotür." Doch je schwerer ein Flugzeug ist, umso lauter wird der Knall, sagt der Wissenschafter. Mehr noch: "Es deutet sich an, dass der Knall im Freien nicht so schlimm wahrgenommen wird wie in geschlossenen Räumen."

Das Geschirr im Schrank werde in vielen Fällen wackeln. Das tut es auch, wenn ein Lkw vorbeifährt, aber die Überschallfliegerei hat auch eine gesellschaftliche Dimension, da sie sich nur wenige leisten können. Dies könne dazu führen, dass die Belästigung nicht akzeptiert werde, sagt Liebhardt. Er ist skeptisch, ob es in absehbarer Zeit erlaubt sein wird, über dem Festland mit Überschallgeschwindigkeit zu fliegen.

Stattdessen könnten Flugrouten so optimiert werden, dass viel übers Meer geflogen wird und der Knall nicht das Land erreicht. Das Potenzial ist vorhanden, meint Liebhardt. Die wichtigsten Verbindungen für Geschäftsreisende seien der Nordatlantik sowie Südostasien zwischen Tokio, Singapur und Hongkong.

Flugrouten berechnen

Wie die Flugrouten im Detail aussehen könnten, erforscht der Wissenschafter mithilfe von Simulationen. "Die Ausbreitung des Knalls hängt von verschiedenen Faktoren ab, etwa Temperatur, aber auch Windverhältnisse." Die Luftströmung kann ihn über 100 Kilometer weit zu Städten tragen, steht der Wind in entgegengesetzter Richtung, kann der Effekt bereits in 20 Kilometer Entfernung verschwunden sein. In eine Modellrechnung für die Strecke London–Dschidda (Saudi-Arabien) haben Liebhardt und Kollegen die Atmosphärenbedingungen für 365 Tage im Jahr 2015 einfließen lassen. Dabei zeigte sich, dass die Route über die Adria sehr genau zu wählen ist, um der Bevölkerung Italiens und des Balkans den Knall zu ersparen.

Neben Boom und Aerion arbeiten noch weitere Unternehmen an Überschallflugzeugen. Auch Russland will in diesem Segment wieder dabei sein, dazu soll ein Forschungszentrum für entsprechende Technologien aufgebaut werden. Ob alle Initiativen trotz wirtschaftlicher Umbrüche, Pandemie und teilweise veränderten Reiseverhaltens im Zuge des Klimawandels umgesetzt werden, ist fraglich. Der Bedarf jedoch scheint vorhanden zu sein. (Ralf Nestler, 10.1.2021)