438 Tage. Das ist nicht nur, aber vor allem im Fußball eine halbe Ewigkeit. Ralph Hasenhüttl dürfte den 25. Oktober 2019 schon länger aus seinem Gedächtnis gestrichen haben. Das 0:9 gegen Leicester vor den eigenen Fans im St. Mary’s Stadium in Southampton war wohl eine der bittersten Niederlagen für den steirischen Coach in seiner Trainerlaufbahn. 0:9: der höchste Auswärtssieg in der Premier-League-Geschichte, die höchste Niederlage für Southampton in der obersten Spielklasse.

Eine Vernichtung, eine Demütigung, eine Watschn, von der man sich im High-End-Profifußball eigentlich nicht erholen kann. "Sack him!", "Schmeißt ihn raus!" war der Tenor nach dem Debakel. "King Ralph," wie sie Hasenhüttl in der regnerischen Stadt an der Südküste Englands nannten, sollte abdanken. 0:9 war zu viel. Nach dem Spiel zeigte sich der Grazer geknickt: "Man könnte die frühe rote Karte als Ausrede nehmen, aber das wäre zu leicht. Ich übernehme die volle Verantwortung und möchte mich entschuldigen", sagte er nach dem Spiel und vergoss innerlich wohl die eine oder andere Träne.

Keine Ausreden nach der historischen Pleite gegen Leicester.
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438 Tage später vergoss er dann tatsächlich ein paar Tränen. Southampton hatte in der 17. Runde gerade Meister Liverpool mit 1:0 bezwungen. Ein frühes Tor des ehemaligen Liverpool-Spielers Danny Ings reichte auf dem Scoreboard, auf dem Platz mussten sich die "Saints" mit viel Kampf und auch Glück gegen die Übermacht wehren. Mit Erfolg. Da kniet er nun, von den Emotionen überwältigt, die feuchten Augen zuerst unter der tiefgezogenen Kappe versteckt, immer wieder schluchzt Hasenhüttl auf, Co-Trainer Richard Kitzbichler klopft ihm im Vorbeigehen auf die Schulter, der Moment gehört aber dem Chef. Es wirkt fast einsam. Der König ist noch da. Und wie.

Ein Königreich für einen Steirer

Es kam alles, wie es so gar nicht kommen musste. Bei Southampton hielt man 2019 nach dem Debakel gegen Leicester am 53-jährigen Grazer fest. Gut, die Galgenfrist nach dem 0:9 dürfte eine kurze gewesen sein, aber Hasenhüttl und sein Team nutzten sie. Obgleich auch die nächsten Partien gegen Manchester City und Everton verlorengingen, schlugen sich die stetig besseren Leistungen schlussendlich auch auf dem Punktekonto nieder. Nach Erfolgen gegen Chelsea und Tottenham gelang auch noch die Revanche gegen Leicester (2:1).

Hasenhüttl war rehabilitiert, sprach später über das 0:9 gar von einem wichtigen Ergebnis für die unmittelbare Zukunft seines Teams. Southampton beendete die Saison auf dem gemütlichen elften Platz. 52 Punkte sind sehr weit weg von einem Abstiegsplatz. Bedanken muss sich Hasenhüttl aber wohl beim Mut und dem Vertrauen der Klubführung. Das ist in seiner Ungewöhnlichkeit ebenso bemerkenswert wie der Werdegang des Trainers, der sich gar nicht so still und heimlich zum besten österreichischen Trainerexport gemausert hat.

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Ein Mann, der oft gut lachen hat.
Foto: Reuters/Potts

Gekommen, um zu bleiben

Wo der 191-Zentimeter-Mann als Trainer aufschlägt, schlägt er ein. Nach seiner ersten Station in Unterhaching übernimmt Hasenhüttl 2011 den abstiegsgefährdeten VfR Aalen in der dritten deutschen Liga und schafft den Aufstieg in die zweite Liga. Dann Ingolstadt und der Aufstieg in die deutsche Bundesliga. Dann RB Leipzig und der Weg in die Champions League. Schließlich nimmt sich Hasenhüttl eine Auszeit, tankt Kraft und übernimmt 2018 Southampton, die er in der ersten Saison vor dem Abstieg rettet. Bei jedem seiner Vereine hat der ehemalige Stürmer zumindest 80 Spiele an der Seitenlinie verbracht. Es scheint, als könne Hasenhüttl Kontinuität vermitteln.

Eine Kontinuität, die sich vor allem bei Southampton in immer besseren Resultaten auswirkte. Der Ruf der Saints als eher biedere Premier-League-Mannschaft verbesserte sich zum Ungemütlichen. Gegen Hasenhüttls Team ist es fast für alle ungut zu spielen. Ungemütlich hatte es auch Liverpool-Coach Jürgen Klopp nach der Niederlage am Montag. Zum ersten Mal überhaupt musste der deutsche Trainerstern gegen Hasenhüttl Punkte abgeben, zeigte sich nach dem Spiel mit der Leistung seines Teams und der Leistung des Schiedsrichters unzufrieden. Es sind normale Mechanismen im Zeichen der Niederlage.

Premiere und der Wind

Co-Trainer Richard Kitzbichler will Hasenhüttl gratulieren. Jürgen Klopp ist nicht gerührt.
Foto: imago images/PA Images

Nicht ganz alltäglich war auf der anderen Seite Hasenhüttls Emotionalität. Der "Telegraph" kommentiere: "Als hätte er den Titel gewonnen, die Champions League, die WM", attestierte dem Österreicher aber gleichzeitig eine taktische Meisterleistung. Hasenhüttl selbst schob die Tränen im Schmäh auf "den Wind", gab aber auch zu, dass Duelle mit Klopp etwas Besonderes für ihn seien: "Vor ein, zwei Monaten habe ich noch mit ihm gescherzt und gesagt: 'Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann, dass ich irgendwann mal einen Punkt gegen dich hole.'"

Mit dem Sieg schob sich Southampton in einer heuer bislang besonders spannenden Premier-League-Saison auf den sechsten Platz, man hat vier Punkte Rückstand auf Liverpool. Die ersten zwölf Teams liegen innerhalb von zehn Punkten. Schon im Juni vergangenen Jahres gab Southampton bekannt, dass man den Vertrag mit Hasenhüttl um vier Jahre bis 2024 verlängert. "Ralph hatte vom ersten Tag an einen positiven Einfluss auf den Verein, alle, die hier arbeiten, und die Fans", sagte Vereinsboss Martin Semmens nach der Vertragsverlängerung. Oder anders: Lang lebe der König! (Andreas Hagenauer, 5.1.2020)