Mein Name ist Mario Schlembach, und das ist meine letzte Saison. Zumindest dachte ich das.

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Seit über 30 Jahren spiele ich Fußball auf Vereinsebene. Es wird Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Vielleicht ist das auch nur eine Berufskrankheit als schreibender Mensch. Der Zwang, ein Ende zu finden, damit im Nachhinein alles Sinn ergibt.

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Woher meine Faszination kam, weiß ich nicht. Jetzt kann ich mir das natürlich zurechtdichten: Jeden Samstag habe ich um 18 Uhr den Fernseher aufgedreht, um die Zusammenfassungen der Bundesligaspiele zu schauen. Bücher oder Mythen waren nicht auf meinem Radar und die Odyssee ein Fremdwort. Mein Homer war die Sportschau. Da hat sich für mich eine Welt offenbart. In erster Linie ging es natürlich um Fußball, aber zugleich wurde mit jedem Match eine Geschichte inszeniert: erst die Vorberichterstattung. Fokus auf einen Helden. Dann wurde ein Antagonist präsentiert. Und über die eigene Dramaturgie der Partie hat sich nach und nach die persönliche Erzählung entwickelt. Jeder Bericht war so ein Spiel im Spiel, und das auf knappe fünf oder zehn Minuten verdichtet. Grandios!

Vielleicht bleiben am Ende vom Spiel nur ein paar Bilder übrig – und Erinnerungen.
Foto: Imago

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Meine Laufbahn im Verein begann in der U6. Ich durchlief alle Jugendmannschaften. In gewissen Altersstufen waren wir so viele Kinder, dass man uns in zwei Gruppen teilte. Ich durfte der Kapitän der Unbegabten sein und manchmal bei den Talentierten auf der Ersatzbank sitzen. Wurde ich nicht eingewechselt, dann schmierte ich mir etwas Erde aufs Knie, um meinen Eltern sagen zu können, dass ich zumindest die letzten Minuten gespielt hatte. Es war das erste Mal, dass ich sie belog. Ich wollte kein Mitleid von ihnen und schon gar nicht, dass sie zu meinem Trainer liefen, um sich wichtig zu machen. Ich wollte einfach nur spielen, wenn ich es mir verdient hatte.

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Mit 16 Jahren wurde ich ins kalte Wasser geworfen und landete im Erwachsenenfußball. Gleich in meiner ersten Saison wurden wir Meister. Von der allerletzten Klasse stiegen wir in die 1. Klasse Ost auf. Ich spielte zwar hauptsächlich in der Reserve, aber war zugleich stets Teil der Kampfmannschaft und schoss bei einem Kantersieg mein erstes Tor. Auf einem Traktoranhänger feierten wir, mit einem Siegeszug durchs Dorf.

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Ein Grund, warum ich noch immer Fußball spiele, ist mein Opa. Er war der Einzige, der bei jedem Match dabei war, mich für jedes Training abholte und wieder nach Hause brachte und nie den Glauben an mich verlor. Es reichte ihm, wenn er sah, wie ich dem Ball nachjagte. Den sofortigen Wiederabstieg in die Letztklassigkeit hat mein Opa nicht mehr erlebt. Er starb an einem Samstagmorgen. Am Sonntag war Meisterschaft, und ich wurde nach fünf Minuten wegen einer Tätlichkeit ausgeschlossen. Unter der Dusche schlug ich mit der Faust gegen die weißen Fliesen und weinte, bis ich keine Tränen mehr hatte. Solange ich Fußball spiele, ist mein Opa noch da.

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Wollte ich es in die erste Mannschaft schaffen, musste ich doppelt so viel trainieren wie alle anderen, die mit so etwas wie Talent oder Grundathletik ausgestattet waren. Vielleicht ist gerade dieses völlige Nicht-Können auch ein zentraler Antrieb gewesen, warum ich bis heute diesem Sport verbunden bin. Dadurch, dass ich mir alles extrem hart erarbeiten muss, bin ich über jeden noch so kleinen Sieg dankbar. Im Fußball schneiden sich Erwartung und Erfolg bei mir im Unendlichen.

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Im ersten Jahr meines Studiums in Wien wurde ich mit meiner Mannschaft noch einmal Meister. In der Herbstrunde belegten wir nur den achten Platz. Vor Beginn der Wintervorbereitung musste ich für eine Prüfung ein 500-Seiten-Manuskript über das Theater der Antike lernen. Ich trainierte nach jeder Studiereinheit wie verrückt, während ich in jedem Satz die Titel von Aischylos, Euripides und Sophokles wiederholte. Ich schloss die Vorlesung mit einem "Sehr gut" ab und wir gewannen in der Frühjahrssaison nahezu jedes Match. Im entscheidenden Spiel war es bis zur 90. Minuten 2:2 gestanden. Wir brauchten unbedingt einen Sieg. Im letzten Moment wurde uns ein Elfmeter zugesprochen. Der erfahrenste Spieler trat an. Er verschoss. Noch ein Eckball. Ich kam irgendwie an den Ball. Köpfte das Siegestor. Schlusspfiff. Jubeltraube. Auf den Schultern meiner Mitspieler wurde ich als Held gefeiert, und wir stiegen auf. Mit 21 Jahren hatte ich meinen persönlichen Höhepunkt erreicht. Drei Saisonen später stiegen wir erneut in die letzte Klasse ab. Klassisches Phänomen einer "Fahrstuhlmannschaft", würde man im Fußballjargon sagen.

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Während viele meiner Altersgenossen nur noch ab und zu bei Hobbyturnieren ihre Schuhe schnüren, spiele ich nach wie vor im Verein, was so viel bedeutet wie zwei bis drei Mal in der Woche Training und am Wochenende Match. Mit über 30 Jahren ist eine Grenze erreicht, wo man beginnt, immer lauter ans Aufhören zu denken. Bis zu einem gewissen Grad kann man die verlorene Spritzigkeit und den körperlichen Abbau mit Erfahrung kompensieren, aber irgendwann reicht das nicht mehr aus. Die Jugend gewinnt immer! Eines der schwierigsten Dinge im Sport ist es, den richtigen Absprung zu schaffen, und manchmal denke ich, ich habe genau diesen Absprung längst verpasst.

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Letzten Sommer beschloss ich, einen Schlussstrich zu ziehen. Natürlich nicht sofort! Noch einmal wollte ich eine ganze Saison erleben, und dann sollte es endgültig vorbei sein. Ich machte die komplette Sommervorbereitung mit und versuchte, meinen Platz in der Mannschaft zu finden. Die Meisterschaft begann gut. Kantersieg und ein Tor von mir, aber dann musste ich wegen einer diagnostizierten Lungenerkrankung mit einer hochdosierten Cortisontherapie beginnen. Ich probierte trotzdem weiterzuspielen, doch als sich die Nebenwirkungen immer mehr bemerkbar machten, verließ mich jede Lust.

Innerlich fühlte ich mich, als müsste ich verbrennen. Mein Immunsystem war im Keller, während mein aufgedunsenes Gesicht einer Lederkugel zu gleichen begann. Die gesamte Herbstrunde stand unter dem Motto: Bett statt Fußball. Um meinen Fokus nicht ganz zu verlieren, schaute ich in Dauerschleife die ewig langen Trainingsmontagen der Rocky-Filme und wartete, bis ich mich – einer wahren Heldenreise würdig – selbst aus diesem Loch ziehen würde. "Aufgeben tuat ma an Briaf!", wie es unsere Jugendtrainer nach Halbzeitrückständen formulierten.

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Im Dezember wurde meine Cortisondosis reduziert, was ich als Anlass nahm, diesen "inneren Schweinehund" zu überwinden. Zwei Monate trainierte ich für mich alleine, verlor die 15 Kilo, die ich mir dank der Medikamente und des Nichtstuns zugelegt hatte, und wartete auf den Beginn der Wintervorbereitung, die im Februar startete. Es ist die schrecklichste Zeit für Fußball: Die Böden sind gefroren, weshalb vorwiegend an der Ausdauer und Kondition gearbeitet wird. Taktisches Training und Übungen mit dem Ball sind bei diesen Verhältnissen hinfällig. Und die Vorbereitungsspiele finden meist auf altem Kunstrasen statt, wo man danach zwei Tage jeden Knochen im Körper spürt. Aber ich wollte das durchziehen und keine Ausreden mehr finden. Die letzte Vorbereitung, die letzten Spiele!

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März. Das erste Match kam. Ich fühlte mich besser als je zuvor. Wir gewannen, und dann inmitten der Vorbereitung für die zweite Partie: Pandemie. Lockdown, und in weiterer Folge Meisterschaftsabbruch. "Und das soll es jetzt gewesen sein?", schrie es in mir, und ich war völlig frustriert, weil mir mein erträumter Abschluss verwehrt blieb. Nach all der harten Arbeit wollte ich nicht, dass eine höhere Macht mir vorschrieb, wann und wie es vorbei sein sollte. Natürlich kann das immer passieren, die meisten Fußballkarrieren enden abrupt, nicht aus eigenem Willen, sondern wegen schwerer Verletzungen: Kreuzbandrisse, Bänderzerrungen. Etc. Davon bin ich zum Glück halbwegs verschont geblieben. Außer mehrerer Platzwunden, gebrochenen Zehen und kaputten Knöcheln habe ich das bisher ganz gut überstanden. Obwohl jedes Mal, wenn ich mich bücke, meine Knie so laut krachen, dass ich erschrecke.

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Diese Situation fühlte sich ähnlich wie beim Schreiben an. Man denkt, dass ein Manuskript fertig ist, benennt die Datei "Final". Am nächsten Tag, nachdem man noch ein paar Fehler entdeckt hat "Finale-Final-Datei". Und am nächsten Tag "Aber-jetzt-wirklich-Finale-Final-Datei". Und dann "Endgültig-Finale-Final-Final-Datei". Usw.

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In der Quarantäne trainierte ich weiter, turnte irgendwelche Internetvideos nach und beschloss relativ schnell, diese letzte Saison als etwas nie Dagewesenes zu behandeln. Sobald es möglich war, nahmen wir Mitte Mai das Fußballtraining wieder auf. Mit der Abstandsregel gingen zunächst nur Pass- und Laufübungen. Einige Wochen später wurde ein Fahrplan für die neue Meisterschaft präsentiert. Die Regeln wurden gelockert, wodurch mit der Vorbereitung begonnen werden konnte. Wieder Monate nichts anderes als laufen, laufen, laufen. Und dann endlich: die neue, letzte Saison!

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August. Erstes Meisterschaftsspiel. Fast 40 Grad. Wir gewinnen hoch. Ich schieße ein Tor und glaube danach einen Sonnenstich zu haben, aber immerhin tut das viele Vitamin D laut meinem Arzt der Lunge gut. Es läuft immer besser, denke ich, und wir verlieren danach fast jede Partie. Wir sind Letzter. Die Maßnahmen im Kampf gegen eine neue Welle der Pandemie werden verschärft. Wöchentlich müssen neue Hygieneregeln beachtet werden. Der Verein baut alles um. Die Zuschauerzahl wird so lange reduziert, bis wir vor leeren Rängen auflaufen sollen, was den finanziellen Ruin bedeuten würde. Fünf oder sechs Spiele stehen in der Herbstrunde noch an. Und dann: Abbruch. Lockdown 2.0. Niemand weiß, wie es weitergeht.

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"Das Ende, das du haben willst, wird es nicht geben", höre ich eine Stimme in mir. In diesem Wahn, einen passenden Abschluss zu finden, habe ich gerade die schönen Dinge vergessen: jedes Spiel zu spielen, als wäre es das Letzte, und dankbar dafür zu sein, noch immer auf dem Platz stehen zu können, obwohl die Regeneration immer schwieriger wird und sich die Gedanken hauptsächlich um das Bier danach drehen. Einmal infiziert, lässt einen der Fußball nicht mehr los. Die, die das nie erlebt haben, werden es wohl nie verstehen. Im Spiel ergibt auf einmal alles einen Sinn. Fußball ist ein schönes Spiel. Einfach! Und so viele einfache Sachen gibt es im Leben nicht.

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Mein Name ist Mario Schlembach, und das ist – noch immer – meine letzte Saison.

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Ganz am Ende bleiben vielleicht nur einzelne Bilder übrig. Meine ersten Fußballschuhe: die roten Diadora von Trifon Iwanow. Und ...

(Mario Schlembach, 9.1.2021)