"Es wird nicht leicht, genügend Menschen von einer Impfung zu überzeugen," ist Philosophin Bicchieri besorgt.

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Cristina Bicchieri lebt seit fast 40 Jahren in den USA und wurde dort zur weltweit führenden Expertin für soziale Normen. Den akademischen Elfenbeinturm hat die Italienerin längst verlassen, sie berät unter anderem die Weltbank und die Gates Foundation. Zuletzt häuften sich die Interview-Anfragen, sagt sie. Schließlich geht es bei Abstandsregeln, Hygienemaßnahmen und anderen Corona-Regeln um Bicchieris Spezialgebiet: soziales Verhalten. Start einer losen Interview-Serie über die Wirtschaftsfragen von Morgen.

STANDARD: Masken, Abstand, Impfen – warum halten sich so viele Menschen nicht an die Corona-Regeln?

DER STANDARD bespricht in einer losen Interview-Serie die großen Wirtschaftsfragen nach der Pandemie.
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Bicchieri: In Demokratien kann man die Menschen nicht immer zwingen, man muss sie überzeugen. Wollen wir die Krise unter Kontrolle bringen, verlangt das von uns, dass wir unser Verhalten radikal ändern. Aber Maske zu tragen oder auf soziale Kontakte zu verzichten bedeutet für uns, dass wir Einschränkungen in Kauf nehmen. Ältere Leute kommen damit besser klar, für jüngere Leute sind diese Einschränkungen sehr schmerzhaft.

STANDARD: Wie bringt man Menschen dazu, den Regeln zu folgen?

Bicchieri: "Norm-Nudging". Lassen Sie mich erklären, was das ist. Wir wissen aus Experimenten, dass die Menschen sehr oft nachahmen, was andere tun. Wir haben die Teilnehmer mit fiktiven Personen konfrontiert, die in einer ähnlichen Situation wie sie selbst sind. Die fiktive Person überlegte etwa, ob sie zu Weihnachten zu Hause bleiben soll. Nachdem die Probanden erfuhren, dass die meisten Personen zu Hause bleiben würden, sagten sie voraus, dass auch die fiktive Person zu Hause bleiben wird. Das Ergebnis: Information über soziale Verhaltensweisen beeinflusst, was wir tun. Wenn die Probanden glauben, dass es eine neue Verhaltensnorm gibt, glauben sie auch, dass sich die erfundene Person an diese Norm halten wird.

Das Vertrauen in die Regierung spielt kaum eine Rolle, wenn es um die Befolgung der Corona-Regeln geht. Das Vertrauen in die Wissenschaft zählt, sagt Bicchieri. Die Italienerin lehrt an der University of Pennsylvania.
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STANDARD: Klingt sehr vielversprechend ...

Bicchieri: … hat aber einen Haken. Das Vertrauen in die Wissenschaft spielt eine wichtige Rolle. Je geringer das Vertrauen, desto öfter verletzen Menschen eine neue Norm. Wer eine Verhaltensregel nicht für sinnvoll hält, weicht ab, wo er nur kann. Nehmen Sie die Abstandsregeln. Während viele Menschen im öffentlichen Raum brav Abstand halten, kommt es im Privaten vermehrt zu Ansteckungen. Wenn wir die Botschaft hinter einer Regel nicht glauben, werden wir zu Opportunisten.

STANDARD: Reicht es nicht, wenn wir der Regierung vertrauen, ohne die wissenschaftliche Botschaft hinter den Abstandsregeln zu verstehen.

Bicchieri: Leider nicht. Erstaunlicherweise ist Vertrauen in die Regierung in diesem Fall ziemlich irrelevant. Mit Blick auf die Covid-19-Impfung macht mir das Sorgen. Vor allem in den USA, aber auch andernorts gibt es viele Impfgegner. Und auch das Vertrauen in die Wissenschaft fehlt in weiten Teilen der Bevölkerung. Es wird nicht leicht, genügend Menschen von einer Impfung zu überzeugen.

STANDARD: Was kann man nun tun?

Bicchieri: Regierungen sollten aufhören, das Vertrauen in die Wissenschaft mit widersprüchlichen Botschaften zu unterminieren. Es geschah in Brasilien und den USA. Wir wissen, wie diese Länder durch die Pandemie gekommen sind.

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US-Präsident Donald Trump und Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro spielten die Corona-Pandemie immer wieder runter. Ihre widersprüchliche Krisenkommunikation habe im Kampf gegen die Pandemie sehr geschadet, beklagt Bicchieri.
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STANDARD: Das Vertrauen in die Wissenschaft wird auch beim Kampf gegen den Klimawandel eine große Rolle spielen.

Bicchieri: Die Pandemie und die Klimakrise sind ein guter Vergleich. In beiden Fällen handelt es sich um soziale Dilemmata. Der Einzelne glaubt, auf seinen Beitrag kommt es nicht an. Wenn aber alle so denken, ist das Ergebnis für die Gesellschaft fatal. Auch beim Klimawandel müssen die Menschen von der wissenschaftlichen Botschaft überzeugt werden. Wenn wir uns nur deshalb ein bisschen nachhaltiger verhalten, weil wir glauben, dass die anderen dasselbe tun, ist das zu wenig. Wir werden immer wieder von neuen Verhaltensnormen abweichen, wo wir nicht beobachtet werden.

Wie bringt man Menschen dazu, sich an die Corona-Regeln zu halten? Das Vertrauen in die Wissenschaft ist jedenfalls weit wichtiger als das Vertrauen in die Politik, erklärt Bicchieri.
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STANDARD: Wie tief ins Private soll der Staat hineinregieren?

Bicchieri: Nicht zu tief. Man muss privates Handeln öffentlich machen. Auch wenn man Sie oder mich nicht dabei beobachtet, wie viel wir recyceln, gibt es doch Statistiken zum Recycling. Regierungen sollten hervorheben, um wie viel mehr Jahr für Jahr recycelt wird. Gewinnen die Menschen den Eindruck, dass ein großer Teil der Bevölkerung Müll vermeidet, folgen sie dem Beispiel. Medien sollten das berücksichtigen. Es geht nicht darum, Informationen zu fälschen. Ein Beispiel: "30 Prozent der Menschen haben sich zu Weihnachten nicht an die Abstandsregeln gehalten" ist dasselbe wie "Eine sehr große Mehrheit hat zu Weihnachten die Abstandsregeln eingehalten". Die Auswirkung auf die Leser ist nicht dieselbe.

Bicchieri gibt nicht nur Interviews, sondern auch Vorlesungen. Hier ist eine über "Norm Nudging".
Centre for the Study of Governance and Society CSGS

STANDARD: Welche Kommunikationsfehler machen wir noch?

Bicchieri: Man muss den kollektiven Nutzen hervorheben. Es reicht nicht, einen Corona-Skeptiker Omamörder zu nennen. Man schützt die anderen, aber auch sich selbst. Diesen zweiten Aspekt heben wir bisher viel zu wenig hervor.

STANDARD: Viele Länder arbeiten weniger mit Kommunikation als mit Lockdowns und Strafen für Regelverstöße. Erschwert das die Entstehung einer Verhaltensnorm?

Bicchieri: Nein, es braucht Sanktionen – zumindest am Anfang. Soziale Normen sind sehr fragil, vor allem wenn sie jung sind. Sie entstehen aus der Spannung zwischen den Wünschen des Einzelnen und den Bedürfnissen der Gesellschaft. Wenn Verstöße nicht sanktioniert werden, verschwinden sie oft schnell wieder. In der Kommunikation sollten Regierungen viel stärker hervorheben, was andere Menschen tun. Was andere tun, ist für unser eigenes Verhalten relevant. Immer. Nicht nur während der Pandemie.

Wer sich impfen lässt, schützt nicht nur Risikogruppen wie ältere Menschen. Er schützt auch sich selbst. Das werde zu selten betont, so Bicchieri.
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STANDARD: Das sind keine guten Nachrichten.

Bicchieri: Natürlich können sich so auch negative Verhaltensweisen verfestigen. Bestechung und Korruption sind Beispiele. Akzeptieren genügend Menschen Korruption als Norm, ist es ganz schwer, diese wieder loszuwerden. Egal, ob die Norm positiv oder negativ ist. Wichtig ist es, positive Normen zu etablieren, damit diese verinnerlicht werden.

STANDARD: Diese Pandemie ist irgendwann vorbei. Müssen wir in der nächsten alle Regeln neu erlernen?

Bicchieri: Ich glaube nicht, dass wir diese Pandemie bald vergessen. Wir wissen nicht einmal, ob die Impfung dauerhaft immunisiert oder ob sie öfter aufgefrischt werden muss.

STANDARD: Können wir das neue Verhalten nicht auch auf den Klimawandel umlegen?

Bicchieri: Die Pandemie ist uns nahe. Viele kennen Menschen, die Symptome hatten oder vielleicht daran gestorben sind. Überall sind Maskierte. Vom Klimawandel hören wir nur. Wir sehen nicht, wie der Meeresspiegel steigt. Das sagt uns die Wissenschaft. Das Vertrauen in die Wissenschaft ist im Kampf gegen den Klimawandel sogar wichtiger als in der Pandemie. Die Politik darf nicht widersprüchlich kommunizieren und schon gar nicht falsche Fakten behaupten.

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In Indonesien führt der steigende Meeresspiegel immer wieder zu Überflutungen. In Europa bekommt man vom steigenden Wasserspiegel weniger mit. Für viele Menschen ist der Klimawandel deshalb weit weniger präsent als etwa die Corona-Krise.
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STANDARD: Mit falschen Fakten gewinnt man aber Wahlen.

Bicchieri: Trump ist sich immer sicher in dem, was er sagt. Er ändert zwar ständig seine Meinung. Aber er sagt nie, dass er sich seiner Sache nicht sicher ist. Das kommt bei den Menschen an. Der Wissenschaft zu vertrauen heißt, auch Unsicherheiten zu akzeptieren. Die Wissenschaft kann nur sagen, was angesichts bisheriger Forschung wahrscheinlich ist. Neue Forschung kann bisherige Überzeugungen über den Haufen werfen. Viele Menschen kommen mit Unsicherheit nicht zurecht. Sie interpretieren Fakten lieber so, dass sie ihre vorgefertigte Meinung unterstützen. Ein Extremfall sind Verschwörungstheorien. Solche Menschen sind sich sicher in dem, was sie behaupten. Jeder Fakt passt in ihr Konstrukt. (INTERVIEW: Aloysius Widmann, 9.1.2021)