Wann werden wir den grünen Wülstgedärmfiguren der zeitgenössischen Dramatik wieder persönlich begegnen? Hier: Thomas Köcks "die dritte republik" am Schauspielhaus Graz.

Lex Karelly

Wir streamen uns in den zweiten Pandemie-Frühling – wer hätte das gedacht. Die hartnäckig hohen Infektionszahlen halten einen regulären Theaterbetrieb wie ein baumelndes Zuckerl konstant in weiter Ferne. Saalvorstellungen werden auch nach Ende des Lockdowns ein Lotteriespiel bleiben. Glückliche Bühne, die jetzt schon ein fettes Streamingprogramm auf Lager hat. Allerdings ist die anfängliche Euphorie für das Online-Theater nach mittlerweile zehn Monaten in den Mühen der Ebene angekommen. Ausgeklügelte Formate lassen auf sich warten. Man will aber mit dem Publikum verbunden bleiben.

Und das geht derzeit so: "Anbei finden Sie den persönlichen Einlass-Link zur heutigen Online-Vorstellung. Wir wünschen Ihnen einen schönen Theaterabend zu Hause." Dieser kann ganz verschiedenartig beschaffen sein. Zum einen gibt es schlichte Theateraufzeichnungen aus dem Archiv, wie es beispielsweise das Berliner Ensemble praktiziert, das "mit Dank an die Bertolt-Brecht-Erben" historische Inszenierungen kostenfrei online stellt. Andererseits werden vereinzelt Premieren als sogenannte Geistervorstellungen live gestreamt. Das kommt teuer, zumal hier eine Fernsehregie mit idealerweise mehreren Kameras über die Theaterregie drübergelegt wird. So hat es mithilfe des ORF in der Vorweihnachtszeit auch die Staatsoper praktiziert.

Aktionsfähigkeit des Publikums

Gezielt für einen Online-Auftritt konzipiert sind dagegen interaktive Formate, die sich über diverse Konferenz-Plattformen an Gaming-Dramaturgien orientieren. Das Publikum ist von der Couch daheim aus live und in Farbe mit dabei. Entscheidend ist dabei das Livemoment sowie die Aktionsfähigkeit des Publikums, das sich über Kommentare und Entscheidungen den Spielverlauf betreffend einbringt. Im Fachjargon: Kopräsenz, d. h. alle sind gleichzeitig im geteilten Raum konzentriert.

Das alles gab es auch schon vor Covid-19, muss man sagen, allerdings hat die nunmehrige Zwangslage die Aufmerksamkeit für digital rezipiertes Theater radikal vergrößert. Und damit auch das Bewusstsein dafür geschärft, dass der digitale Raum auch für das Theater eine Bühne sein kann, dieser aber eben auch nicht rechtefrei ist. Auch im Netz müssen – analog zu Musik, Film oder Journalismus – Rechte abgegolten werden. Manche Theater haben bereits ein extra Ticketsystem für Online-Vorstellungen installiert. Die Preise sind niederschwellig; man will schließlich Leute anlocken. Vieles ist noch kostenfrei.

Theater in Deutschland haben ihr Streamingprogramm sukzessive ausgebaut. Österreich ist da etwas zögerlicher. Hier waren neben einzelnen freien Gruppen vor allem die Landestheater (Graz, Bregenz, St. Pölten) früh entschlossen, während die, grob gesagt, Hauptstadtbühnen die Pandemie mit kleinen Online-Formaten zu durchtauchen gedachten und ihre Ressourcen auf den realen Spielbetrieb konzentrierten (Proben ist erlaubt). Das Burgtheater könnte im Jänner sieben Premieren "hinausschießen", so Direktor Martin Kušej schon vor Weihnachten.

Teuflische Pixelwelt

Kušejs Begeisterung für Bildschirmtheater hält sich in Grenzen, damit ist er nicht allein. Doch das Pokern mit stets hinausgeschobenen Spielstarts ist vielleicht noch teuflischer als die Pixelwelt. Johan Simons, Intendant in Bochum und auch am Burgtheater regelmäßig Regiegast, hat sich der digitalen Theaterpraxis indes angenähert und streamte im Dezember König Lear (in der Neuübersetzung der Wiener Autorin Miroslava Svolikova) live. Eine lehrreiche Veranstaltung!

Zu den nostalgischen Stimmungen, in denen wehmütig von "Saalvorstellungen, damals ..." die Rede war und der Austausch mit dem Live-Publikum vermisst wurde, kamen aber auch reizvolle Gedanken ins Spiel. Etwa, dass King Lear nun auch ungeniert auf einem Handydisplay in einer Kneipe in Rio de Janeiro zu sehen war.

Der Stream mit all seinen nichttheaterhaften Aspekten wird uns länger erhalten bleiben als gedacht. Und vielleicht hilft es, nicht mit vorauseilender Enttäuschung an seine Wesensart heranzugehen, sondern das Positive zu sehen: neues Publikum, ästhetische Kniffe, Barrierefreiheit, Präsenz. King Lear hatte übrigens 1600 Online-Zuseher. Im Verlauf der Vorstellung ist die beträchtliche und jeder Saalvorstellung den Rang ablaufende Zahl zwar auf 900 gesunken. Aber immerhin! (Margarete Affenzeller, 9.1.2021)