Im Kanzleramt bricht Unruhe aus. Es ist Wochenbeginn, der Chef ist unlocker. Die Kritik häuft sich, Medien machen Druck, alles gehe zu langsam, der Impfstart sei vermasselt. Manche sprechen längst von einem Desaster. Auch im Umkreis von Kanzler Sebastian Kurz wird Unmut geäußert, Freunde und Bekannte stellen ihm Fragen: Warum dauert das so lange? Wie kann es sein, dass Impfstoff eingelagert ist, aber nicht sofort verwendet wird?

Der Kanzler und seine Message-Controllore werden spürbar ungeduldig. Kurz fragt Anfang der Woche nach. Bei seinen Leuten und bei jenen des grünen Gesundheitsministers Rudolf Anschober. Dessen Beamte hatten einen guten Zeitpolster eingeplant, ehe die große Impfaktion starten sollte. Das in einer Runde von Verantwortlichen für Bund und Länder abgestimmte Datum dafür: erst der 12. Jänner.

Der offizielle Impfstart in Österreich wurde von der Politik zelebriert, im Hintergrund hat es aber heftig und lautstark geknirscht.
APA/Schlager

Der Kanzler findet heraus, dass erst 40 Prozent der Pflegeheime Impfstoff geordert haben. Warum, kann niemand schlüssig erklären. Also richtet Kurz am Dienstag eine Gruppe ein. Seine Leute sollen Länder und Heime durchtelefonieren und sie mehr oder weniger sanft darauf aufmerksam machen, zügig Impfstoff zu bestellen. Das Büro des Bundeskanzlers ist nach Neujahr nicht üppig besetzt, auch Kabinettschef Bernhard Bonelli und sein Stellvertreter Markus Gstöttner greifen zu den Hörern – und wollen retten, was zu retten ist.

Stoff aus dem Kanzleramt

In Wien sorgt der Anruf aus dem Kanzleramt aber für Irritation. Auch das Büro des roten Gesundheitsstadtrats Peter Hacker wird Dienstagfrüh kontaktiert: Es gebe Impfstoff, 20.000 Dosen zur raschen Verwendung, Zusage bis spätestens 17 Uhr. Im Rathaus ist man verwirrt, denn alle im E-Shop vorhandenen Impfdosen wurden gebucht. Wo kommt der Stoff aus dem Kanzleramt nun her?

Das Büro von Hacker beginnt zu recherchieren: Die von Kurz’ Kabinett angebotenen 20.000 Dosen sind gar nicht liegengeblieben oder vergessen worden. Es handelt sich um die für folgende Kalenderwochen reservierten zweite Dosen für all jene, die jetzt ihre Erstimpfung bekommen. "Man hätte die schon vorziehen können", sagt ein Sprecher Hackers. "Aber das hätte nur bedeutet, dass wir Anfang Jänner kurzfristig mehr Menschen impfen, dafür in drei Wochen deren eigentlich vorgesehene Dosen für die Zweitstiche brauchen." Sicher geschützt sind Geimpfte erst nach der zweiten Spritze.

Auch im Gesundheitsressort wird die Aktion aus dem Kanzleramt als Einmischung empfunden. Die Stimmung zwischen den Koalitionspartnern ist getrübt. Der Kanzler habe Anschober besänftigt: Mit diesen Aktivitäten wolle man in erster Linie die mediale Diskussion vom Tisch haben. Es sei keine Kritik an der Planung der Impfaktion selbst.

Im Kanzleramt wird die Geschichte anders erzählt. Kurz sei durchaus unrund gewesen, als er mitbekommen habe, wie gemütlich die Beamten des Gesundheitsressorts an die Planung herangegangen seien. Es sei zu viel auf Sicherheit gesetzt worden, es gebe zu wenig Flexibilität. Dabei fällt immer wieder der Name von Clemens Martin Auer, dem Impf-Sonderbeauftragten im Gesundheitsministerium, der auch auf EU-Ebene als Vertreter Österreichs der Verhandlungsgruppe zur Beschaffung von Impfstoffen angehört. Ein Beamter durch und durch, heißt es, und das ist in den Kreisen um Kurz nicht als Lob gedacht. Wenn Auer auf EU-Ebene mit anderen Beamten seines Schlages verhandelt habe, sei es kein Wunder, dass die Beschaffung der Impfstoffe durch die Kommission so lange gedauert habe.

Nur 40 Prozent der Pflegeheime sollen Impfstoff geordert haben. Warum, kann niemand schlüssig erklären.
Foto: Christian Fischer

Auf grüner Seite wird eingewendet: Auer sei ein Mann der ÖVP. Tatsächlich war er unter Erhard Busek und Wolfgang Schüssel Leiter der Politischen Abteilung der ÖVP, ehe er als Kabinettschef von Maria Rauch-Kallat ins Gesundheitsministerium wechselte. Trotz Parteizugehörigkeit wird Auer in den Kreisen von Kurz wenig geschätzt. Dafür hält Anschober an dem Beamten fest, obwohl – oder vielleicht gerade weil – bereits intensiv dessen Ablöse kolportiert wurde.

Vorverlegung ausgehandelt

Dienstagabend konferiert die Regierungsspitze. Man einigt sich auf eine Vorverlegung der breiten Impfaktion. Während Anschober bei Kurz saß, hatte Katharina Reich, die neue Direktorin für Öffentliche Gesundheit, ihren Auftritt in der ZiB 2. Sie leitet seit Dezember eine entscheidende Sektion im Gesundheitsministerium – nämlich jene, in der auch die Abteilung für epidemiologische Fragen angesiedelt ist. Der Chefposten war das ganze Jahr lang unbesetzt gewesen. Im einleitenden TV-Beitrag verlangt die türkise Tourismusministerin Elisabeth Köstinger vom Koalitionspartner, das Impfen zu beschleunigen. Live im Fernsehen erklärt Reich danach, dass alles nach Plan laufe – und am 12. Jänner der große Start folge. Sie ist offenbar nicht informiert, was derweil beschlossen wurde. Es ist der vorläufige Höhepunkt des Kommunikationsdebakels rund um die Impfaktion.

Auch im Umkreis von Kanzler Sebastian Kurz wird Unmut geäußert, Freunde und Bekannte stellen ihm Fragen: Warum dauert das so lange?

Um zu verstehen, warum vieles schiefgelaufen ist, muss man in die nahe Vergangenheit schauen. Österreich beteiligt sich bereits im Juni 2020 an der gemeinsamen europäischen Beschaffung der Impfstoffe. Was dem Kanzler ganz wichtig ist, weil er immer wieder darauf angesprochen wird: Die EU sei schuld. Österreich hätte selbst gar keinen eigenen oder zusätzlichen Impfstoff beschaffen können, egal zu welchem Preis. Zwar hatte es durchaus Überlegungen gegeben, gemeinsam mit Israel und anderen "Early Movers" einen Ankauf zu organisieren, doch in der EU-Vereinbarung ist festgehalten, dass die Mitgliedsstaaten nicht bilateral mit Pharmaanbietern verhandeln dürfen. Erst wenn der Beschaffungsvorgang abgeschlossen ist, können die EU-Staaten auch auf eigene Faust Impfstoffe beschaffen.

Am Anfang ist die Impfkommunikation noch ein Überholmanöver. Am 28. August spricht der Kanzler von "Licht am Ende des Tunnels" und stellt einen normalen Sommer 2021 in Aussicht. Die Forschung an einem Impfstoff laufe besser als angenommen. Anschober geht wenige Tage später in die Medien und verkündet, dass bereits im Jänner die ersten Impfungen stattfinden könnten.

Anfang November wird der zweite Lockdown verkündet, kurz darauf schließt die EU Verträge mit Biontech/Pfizer und Moderna ab. Der grobe Impfplan steht: erst Alten- und Pflegeheime und das Personal im Gesundheitsbereich, dann Menschen über 65 Jahre, systemimmanente Bereiche, die kritische Infrastruktur. Im zweiten Quartal sollen dann alle geimpft werden können, die wollen. Die Länder waren in die Entwicklung dieses Plans nicht eingebunden.

Späte Bedarfserhebung

Ab dann häufen sich die Ungereimtheiten. Die erste Videokonferenz des Gesundheitsministeriums zur Impfstrategie mit den Bundesländern findet am 10. Dezember statt. Erst im selben Monat wird eine Bedarfserhebung eingefordert, wie viele Bewohner und wie viel Personal es überhaupt in den Heimen gibt, so erzählt man in den Ländern. Auch die noch vor Weihnachten versprochene Freischaltung des E-Shops, über den der Impfstoff im gesamten Land verteilt wird, passiert erst viel später – zum Jahreswechsel.

"Bürokratie" dürfe der Impfaktion nicht im Weg stehen, meint Kanzler Sebastian Kurz.
STANDARD/Fischer

Unmittelbar vor den Feiertagen kündigt Kurz erste Impfungen am 24. Dezember an. Da macht ihm die EU einen Strich durch die Rechnung: Es soll einen europaweiten Impfstart geben – am 27. Dezember. Und schon die symbolischen ersten Showimpfungen werden zum politischen Scharmützel. Eigentlich sollen sie in einem Wiener Pflegeheim medienwirksam – und von der Bundesregierung begleitet – passieren. Doch das sei am Kanzleramt gescheitert, als das Heim Wiens roten Bürgermeister Michael Ludwig und dessen Gesundheitsstadtrat Hacker einladen wollte – so wird es zumindest im Rathaus erzählt. Das Kanzleramt dementiert. Die ersten fünf Impfungen finden schlussendlich in der Medizinischen Universität Wien statt – nur mit Kurz und Anschober vor Ort.

Die ersten etwas größeren Tranchen sollen zuerst nur in Wien und Niederösterreich verimpft werden: jeweils rund 5000 Dosen. Das wollen sich aber manche andere Länder nicht gefallen lassen, die erst später an der Reihe wären. Also wird nach einem Schlüssel aufgeteilt, der sich grob an der Bevölkerung orientiert. Wien bekommt 1700 Impfdosen, kann damit bis 30. Dezember aber 2040 Menschen impfen. Denn aus einem Fläschchen lassen sich nicht nur fünf, sondern sechs Spritzen aufziehen, wenn kein Tropfen verlorengeht. In Kärnten wird berichtet, manchmal gingen sich sieben Dosen aus einem Fläschchen aus.

Die Twitter-Aktion aus dem Burgenland ruft in Wien ziemlichen Ärger hervor. Ab jetzt sind die Länder selbst für die Organisation der Impfungen zuständig.

Anfang Jänner liegen rund 60.000 Impfdosen aufgeteilt auf 17 Zwischenlager im Land, geimpft wurden jedoch bis 6. Jänner österreichweit nicht einmal 7000 Menschen. Wie viele es wann konkret waren, ist nicht klar – die Zahlen werden nicht tagesaktuell erfasst, anders als etwa in Deutschland. Medial wird das "Impfchaos" ausgerufen – und daraufhin das Kanzleramt aktiv, das seinen Rundruf startet.

Impfsteuerungsgruppe

Auch im Burgenland klingelt Dienstagvormittag das Telefon im Büro des burgenländischen Landeshauptmanns Hans Peter Doskozil (SPÖ). Ein Mitarbeiter aus dem Kanzlerkabinett stellt ein paar Hundert zusätzliche Impfdosen in Aussicht, die am Freitag verimpft werden könnten. Auch hier gilt 17 Uhr als Frist. Die Sprecherin des roten Landeschefs macht auf Twitter ihren oder den Unmut ihres Chefs kund. Der plötzliche Zeitdruck am Dienstag sei nur mit der folgenden Medienkampagne des Kanzlers im Boulevard zu erklären. "Kurz spricht jetzt Impf-Machtwort", titelt ein Gratisblatt am Donnerstag.

Die Bundesländer geraten durch die Ruckzuckaktion des Bundes aber jedenfalls unter Zugzwang. Sie müssen innerhalb weniger Stunden Pflegeheime finden, in denen kurzfristig früher geimpft werden kann. Geeignete Impfteams aufzubauen braucht Vorlaufzeit, schließlich geht das dafür vorgesehene medizinische Personal auch regulären Jobs nach. Dem zum Trotz verlangt der Kanzler, dass nun Tempo in die Sache kommt. 120.000 Impfdosen sind in Österreich derzeit verfügbar. Knapp 70.000 davon sollen bis Anfang nächster Woche verimpft werden. Wöchentlich werden im Jänner 60.000 neue Impfdosen in Österreich angeliefert.

Inzwischen ist eine Impfsteuerungsgruppe eingerichtet, der Anschober vorsteht. Sie soll sich etwa darum kümmern, wenn in Heimen Dosen übrigbleiben, die schnell neue Abnehmer brauchen. Aufgetaut ist der Biontech-Impfstoff – der einzige, der aktuell zur Verfügung steht – 120 Stunden haltbar.

Die donnerstagnächtliche Twitter-Aktion aus dem Burgenland ruft in Wien Ärger hervor. Freitagmittag schickt der Kabinettschef des Kanzlers eine E-Mail an alle Bundesländer: Ab jetzt seien sie selbst für die Organisation der Impfungen zuständig, der Bund liefere nur noch die entsprechenden Dosen. "Bürokratie" dürfe der Impfaktion nicht im Weg stehen, sagt Kurz dazu.

Übrig bleibt, dass der vermasselte Impfstart einem Multiorganversagen geschuldet ist. Oder freundlicher formuliert: Es ist eine wahrlich österreichische Impfgeschichte.

(Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstaedt, Michael Völker, 9.1.2021)