Marine Le Pen muss zwischen verschiedenen rechten Position jonglieren.

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Wende um 180 Grad – Marine Le Pen wechselt wieder einmal ihren Standpunkt. Nach dem Sturm auf das Kapitol in Washington bezeichnet sich die französische Präsidentschaftsanwärterin Marine Le Pen als "äußerst schockiert über die Bilder der Gewalt". Bislang hatte die Anführerin der Nationalen Sammlungsbewegung (RN), ehemals Front National, dem Vorgehen des US-Präsidenten und seiner Anhänger systematisch applaudiert. Im November zog sie auch das Ergebnis der US-Wahl in Zweifel. "Die Partie ist noch nicht zu Ende", erklärte sie damals, und: Joe Biden habe "absolut nicht gewonnen".

Nun nimmt sie die Formalität der Wahlbestätigung zum Anlass, um umzusatteln. Sie findet sogar kritische Worte für Trump. Der Nochpräsident habe "zu wenig an die Wirkung seiner Worte auf die Leute gedacht", räumte die 52-jährige Französin ein. Sie selbst "oder wer auch immer" habe "keinerlei Mühe anzuerkennen, dass Joe Biden Präsident der USA ist", sagt sie nun, als hätte sie das schon immer geglaubt.

Einmal mehr zeichnet sich Le Pen durch einen sehr improvisiert wirkenden Schlingerkurs aus. Vor vier Jahren hatte sie nach ihrem verlorenen Präsidentschaftsduell gegen Emmanuel Macron voll auf den Trump-Effekt gesetzt, um sich daran politisch wieder hochzuhangeln. Sie reiste sogar nach New York, um ihr neues Idol zu treffen. Im Trump Tower schaffte sie es allerdings nur ins Café, wo sie der Immobilienmagnat sitzenließ. Zurück in Paris, eiferte Le Pen dennoch ihrem Vorbild nach und gab ihr – wahlpolitisch motiviertes – staatsmännisch-moderates Gehabe wieder auf: Ganz wie Trump wetterte sie über die Eliten, die Linken und die Bürokraten im Land.

Franzosen wollen starken Staat

Was sie übersah: Frankreich ist nicht Amerika. Während Trumps Tiraden gegen den Bundesstaat und den Staatsapparat in den USA weithin ankommen, wollen die französischen Wähler im Gegenteil einen starken Staat, wie ihn Charles de Gaulles Fünfte Republik bietet. Krawall und Chaos ist auch nicht nach dem Gusto aller RN-Wähler, die in Paris oft am lautesten nach Recht und Ordnung rufen.

Bloß gibt es in Le Pens Partei auch andere Stimmen, die sich offen über die Randale im Kapitol freuen. Der RN-Parteikader Aymeric Durox fragte, warum sich die Linke 1967 nicht beklagt habe, als die Black Panthers das kalifornische Parlament gestürmt hätten. Damals seien keine Schwarze umgekommen, während nun vier Trumpisten das Leben gelassen hätten. "Ist das vielleicht ein weißes Privileg?", giftete Durox.

Zwischen rechten Stühlen

Le Pen deckt diese rechtsextremen Scharfmacher, die den harten Kern ihrer Partei bilden. Zugleich muss sie aber auch als Verfechterin der Rechtsordnung antreten, um bei den Präsidentschaftswahlen eine Chance zu haben. Ähnlich ambivalent verhält sie sich in der Corona-Frage: Einerseits wirft sie der Regierung vor, die Bevölkerung nicht schnell genug zu impfen – andererseits weigert sie sich zu sagen, ob sie sich selber impfen lassen würde.

Generell lässt Le Pen ständig offen, ob sie sich eigentlich inner- oder außerhalb der republikanischen Institutionen situiert. Schon 2018, als die Gelbwesten in Paris staatsrepublikanische Symbole wie den Arc de Triomphe verwüsteten, unterstützte Le Pen die rabiaten "gilets jaunes". Gleichzeitig verteidigte sie die Polizeikräfte und die republikanischen Symbole wie den Triumphbogen.

Der Kapitol-Sturm entlarvt erneut Le Pens ideologischen Widerspruch zwischen staatstragender und antirepublikanischer Haltung. Und auch zwischen Antiamerikanismus und Trumpismus. Ihre potenziellen Wähler kommen da kaum mehr mit. Ob der Trump-Faktor Le Pens Präsidentschaftsplänen unter dem Strich genützt hat, bleibt deshalb sehr fraglich. (Stefan Brändle aus Paris, 11.1.2021)