Theatergruppen sind noch poppiger als Popbands, nur weiß das niemand. Die Hydra von Gob Squad markiert hier die "Western Society".

Garrett Davis

Sie trinken Champagner aus frisch eingeschwitzten Lackschuhen. Sie zwingen die Besucher in wuschelige Ganzkörperaffenkostüme. Und sie treffen sich mit dem Publikum nachts im Hotel, um der Einsamkeit zu entfliehen. Hier ist nicht von urargen Popbands die Rede, sondern vom zeitgenössischen Theater. Schade, denkt da wohl mancher. Denn Theater, das ist ja leider diese auf nicht enden wollenden Dialogen fußende, bildungsbeflissene Kunstgattung.

Staatstheater Wiesbaden

Das diese Gattung repräsentierende, institutionalisierte Theater mit Abonnentenstamm ist aber nur die halbe Miete. Seit Jahrzehnten hat das Theater einen starken popkulturellen Strang entwickelt, hat sich performatives Theater durchschlagend behauptet. Zu verdanken ist die stete Neulandgewinnung seit den 1990er-Jahren erheblich den frei produzierenden Künstlerinnen und Künstlern (wie früher auch schon). Ihnen ist nun eine auf zwölf Bände angelegte Buchreihe im Alexander-Verlag gewidmet.

Kampnagel Hamburg

Weil Theater nicht konserviert werden kann, wie uns die Corona-Zeit deutlich vor Augen führt, ist dessen Dokumentation umso wichtiger. Große Institutionen haben dafür eigene Archive und stehen oft im Fokus der Aufmerksamkeit, das freie Theater muss sich um seine nachvollziehbare Geschichtlichkeit selbst kümmern. Umso wertvoller ist dieses Buchprojekt, es nennt sich Postdramatisches Theater in Porträts.

Runter vom Ross!

Die ersten beiden Bände sind bereits erschienen und porträtieren die Gruppen Gob Squad und Gintersdorfer/Klaßen. Menschen wie du und ich, so die Botschaft. Denn die Buchreihe will vor allem eines: das Wissen über das freie Theater im deutschsprachigen Raum niederschwellig vermitteln: Runter vom hohen Ross des Dramaturgensprech! Keine selbstverliebte Huldigung, kein nostalgisches Wunderhorn, raus aus der Blase, und weg mit der Angst vor den P-Wörtern (postdramatisch, performativ, politisch, progressiv). Die kleinformatigen Bände enthalten viel Bildmaterial von auf und hinter der Bühne; jeweils ein ausführliches, die Arbeitsweise erklärendes Interview mit dem Team; interne und externe Einzelstatements sowie ein detailliertes Werkverzeichnis.

Gob Squad (seit 1992) haben ihren Sitz heute in Berlin, Gintersdorfer/ Klaßen (seit 2005) in Hamburg, doch das ist nicht von Belang. Die Gruppen definieren sich nicht über eine Adresse, sondern über ihre Inhalte und die damit zusammenhängenden Produktionsweisen. Regelmäßig sind sie auch in Österreich zu sehen, bei den Wiener Festwochen, beim Donaufestival oder zuletzt im Werk X: Gintersdorfer/Klaßen klopfen kanonisierte Dramenstoffe ab (Geschichten aus dem Wiener Wald mit dem Nino aus Wien).

Popkultur

In aller Kompaktheit lässt sich in den Porträtbänden lesen, wie sehr das freie Theater schon vor 20 Jahren das praktiziert hat, worüber heute der Mainstream zu diskutieren anfängt: Arbeiten im Kollektiv statt Einzelgenies, flache Hierarchien, Geschlechtergerechtigkeit, postkoloniale Perspektiven, Mehrsprachigkeit, Zugehen aufs Publikum, Theater aus der unmittelbaren Gegenwart entwickeln (eigene Erfahrungen, alltagsnahe Sprache).

Die Bücher sind von erfreulich barrierefreier Aufmachung und dienen der Attraktivitätssteigerung der Bühnenkunst, die den Nimbus des Höfischen und Bürgerlichen in sich trägt, aber auch Popkultur ist. Ted Gaier von der Band Goldene Zitronen beispielsweise werkt seit 2015 auch bei Gintersdorfer/Klaßen. Und Gob Squad waren 1992 am Glastonbury Festival so etwas wie die Vorband von Morrissey und PJ Harvey.

Die nächsten geplanten Bände porträtieren: andcompany & Co., Rimini Protokoll, She She Pop, Boris Nikitin, Claudia Bosse. (Margarete Affenzeller, 12.1.2021)