Das Gesundheitssystem nicht zu überlasten ist das oberste Gebot in der Corona-Krise. Der Umgang mit der Pandemie ist auch ein Ergebnis sozialer und politischer Entwicklungen.

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Die Corona-Pandemie stellt nicht nur die medizinische Forschung auf eine harte Probe, sondern auch allgemein gegenwärtige Konzepte des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der politischen Entscheidungsfindung. Das Verhältnis zwischen individueller Freiheit und kollektiven Maßnahmen wird unter Hochdruck neu verhandelt.

Der konkrete Umgang mit der weltweit auftretenden Viruserkrankung hängt von sozialen, kulturellen oder technologischen Aspekten ab, die vielleicht vor 100 Jahren während der Spanischen Grippe noch in ganz anderer Form vorlagen.

Zu diesem Themenfeld gehört auch die Frage, welche Mechanismen eigentlich bestimmen, wann ein Sachverhalt von einer Gesellschaft tatsächlich als Katastrophe wahrgenommen wird und welche sozialen Auswirkungen die daraus resultierenden politischen Konzepte wiederum haben. Unter anderem mit diesen Fragen beschäftigt sich Andreas Folkers vom Institut für Soziologie der Universität Gießen in Deutschland.

Katastrophenschwellen

Der Postdoc-Forscher hat sich in seiner Dissertation mit politischem Katastrophenmanagement auseinandergesetzt und ist derzeit in ein Projekt zur Frage, wie Risiken durch klimawandelbedingte gesellschaftliche Veränderungen entstehen und durch die Politik geprägt werden, involviert.

Mit einer Analyse von Wertordnungen und Katastrophenschwellen im Zusammenhang mit der Covid-19-Krise war Folkers vergangenen Dienstag bei der "Translokalen Vorlesungsreihe: Geographien von Covid-19" zu Gast. Diese regelmäßig stattfindenden Veranstaltungen werden vom Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Klagenfurt organisiert und online abgehalten.

Begriff der Biopolitik

Im Zentrum von Folkers soziologischen Pandemie-Überlegungen steht der Begriff der Biopolitik, der, allgemein gesagt, eine Gegebenheit beschreibt, in der "das Leben selbst zu einem Problem der politischen Auseinandersetzung wird", wie der Gießener Forscher beschreibt.

"Ein neues politisches Verständnis, das im 19. Jahrhundert zum Durchbruch gelangt, geht vor dem Hintergrund damaliger Epidemien und Hungersnöten davon aus, dass das Leben der Bevölkerung etwas ist, das man regulieren und über das man politische Auseinandersetzungen führen kann", beschreibt Folkers.

Biopolitische Betrachtungsweise

Es entstand eine neue Art, eine Bevölkerung zu betrachten und sie zu beschreiben – jene der Geburts- und Sterberaten und der Statistiken über Krankheiten und Lebensumstände. Sie war die Basis neuer Regularien und Maßnahmen, die die Hygienesituation in der Bevölkerung verbessern oder – etwa durch Impfmaßnahmen – Krankheiten zurückdrängen sollten. Die ersten Versuche, die Pocken mit einer Schutzimpfung zu bekämpfen, datieren in Europa immerhin ins ausgehende 18. Jahrhundert.

Diese biopolitische Betrachtungsweise auf Bevölkerungsebene wird im 20. Jahrhundert durch eine weitere Perspektive ergänzt – Folkers nennt sie eine "Biopolitik vitaler Systeme". Es ist ein Forschungsstrang, der auch durch Arbeiten des französischen Denkers Michel Foucault inspiriert ist, mit dem die Begriffe Biopolitik oder Biomacht heute häufig assoziiert werden.

Technische Netzwerke

Die Erfahrungen der Weltkriege zeigten demnach, wie abhängig die Gesellschaften von technischen Netzwerken geworden waren. Mobilität, Wasser- und Energieversorgung waren zu verwundbaren, aber lebenswichtigen Systemen geworden. Es reichte nicht mehr, nur direkt auf die Bevölkerung einzuwirken, man musste auch jenen technischen Netzwerken Aufmerksamkeit schenken, die man heute kritische Infrastrukturen nennt.

Diese beiden biopolitischen Regime werden für Folkers in einem Diagramm abgebildet, das in der Anfangszeit der Pandemie eine geradezu ikonische Wirkung entfaltete: die "Flatten the curve"-Grafik, die einerseits die an Covid-19 erkrankte Bevölkerung abbildet, andererseits auch das Limit der relevanten kritischen Infrastruktur zeigt – die Kapazität des Gesundheitssystems.

"Einerseits steht die Kapazitätsfrage im Zentrum der Debatte, andererseits sind aber relativ wenig konkrete Informationen darüber verfügbar, wie hoch diese Kapazitäten tatsächlich sind", sagt der Soziologe. "Das ist insofern interessant, weil es dabei um eine zutiefst politische Frage geht, die mit der Auswirkung von Sparzwängen zusammenhängt."

"Flatten the curve"

Auch eine weitere biopolitische Werthaltung ist implizit im "Flatten the curve"-Gedanken vorhanden: jene der Biolegitimität, womit gemeint ist, dass das Leben selbst als höchstes Gut betrachtet wird. "Dieser Humanitarismus ist historisch betrachtet eine junge Idee, bedenkt man, wie oft im Namen des Lebens eins Volkes Vernichtungskriege geführt wurden", sagt Folkers.

Steigt die Kurve der schwer Erkrankten nun über die Kapazitätsgrenze, kann keine optimale Versorgung aller garantiert werden. Der vorausgesetzte Grundsatz, dass alle Menschen gleichermaßen geschützt werden, wird enttäuscht.

Dieser Gedanke hat dem Begriff der Triage, also der Priorisierung medizinischer Hilfeleistung bei mangelnder Kapazität, zu einer ungeheuren Konjunktur verholfen. "An diesem Punkt, an dem die Kapazitätsgrenze überschritten wird, wird in den gegenwärtigen Wertordnungen die Katastrophenschwelle überschritten", sagt Folkers.

Gleichheit, Ungleichheit

Gleichzeitig weist in diesem Zusammenhang der französische Soziologe Didier Fassin darauf hin, dass auch die Biolegitimität eine ideologische Komponente beinhaltet: "Sie postuliert eine Gleichheit, die es in einer faktisch ungleichen Gesellschaft nicht geben kann", fasst Folkers zusammen.

Am Anfang der Pandemie konnte man beobachten, dass es selbst für einschneidende Maßnahmen hohe Zustimmung gab. "Alle fühlten sich gleichermaßen betroffen", sagt Folkers. "Es hat sich schnell herausgestellt, dass die Menschen durch Rassismus, Geschlechterordnungen oder sozioökonomische Gegebenheiten sehr unterschiedlich von der Corona-Krise berührt werden. Aus der Pandemie resultiert eine Kritik an der Gleichheitsillusion der Biolegitimität."

Diese Kritik mündet wiederum in den Anspruch an die Politik, gerade in Krisenzeiten eine höhere Sensibilität für die Biopolitik einer sozialen Gerechtigkeit aufzubringen. (Alois Pumhösel, 30.1.2021)