Im Gastkommentar antwortet der renommierte Architekt Wolf D. Prix auf "die Zurufe aus dem Elfenbeinturm". Ihn stört, dass "ein Kanon der Moral auf die Schultern von fast allen internationalen Architekturbüros geladen wird".

Noch ist es nur eine Studie, aber so soll die Oper von Sewastopol später aussehen – gebaut von Coop Himmelb(l)au.
Foto: Coop Himmelb(l)au

Das Bild von einem reißenden Fluss, in dem wir Architekten gegen die Strömung der gesellschaftlichen und der Architekturwirklichkeit ankämpfen, hat seine Richtigkeit. Während die Kritiker und Theoretiker am Ufer stehend, ohne sich nass zu machen, den Architekten gute Ratschläge aus dem Elfenbeinturm zurufen.

Uns allen ist das Argument bekannt, dass ein Richter keinen Mord begehen muss, um über einen Mörder zu urteilen. Genauso wenig wie ein Architekturkommentator Gebäude bauen können muss, um über Architektur zu schreiben. Aber genauso wie sich ein Richter mit den Umständen des Mordes vertraut machen muss, genauso müssten die geschätzten Kritiker und jene, die es noch werden wollen, sich den Problemen der Architekturwirklichkeit nähern.

Medialer Trollangriff

Ich bin über den medialen Trollangriff auf Coop Himmelb(l)au nach einem Telefonat mit dem ukrainischen Botschafter nicht verwundert. In poststalinistischem Ton forderte er mich auf, unser Projekt einer Oper in Sewastopol sofort zu beenden, da wir angeblich gegen die EU-Sanktionsgesetze verstoßen. Sonst, drohte er, werde er meine Existenz und die unseres Büros ruinieren.

Nachdem aber schnell klar geworden war, dass wir keine rechtlichen Bestimmungen verletzt haben, verlagerte sich die Diskussion von berufenen Kommentatoren zu Architektur und Politik auf die Ebene von Moral und Ethik. Coop Himmelb(l)au baut für Putin = Diktator = Unterdrücker der Freiheit = Teufel. Wir bauen aber nicht für Wladimir Putin, wir bauen keine Botschaft, wir bauen kein Politkommissariat. Wir bauen eine Oper. Und diese Oper ist nicht für Putin, sondern für die Bewohnerinnen und Bewohner von Sewastopol und der Krim. Genauso wenig wie die Wiener Oper für Kaiser Franz Joseph I. und die Universität für Rudolf IV., sondern für die Wienerinnen und Wiener gebaut wurde.

Subalterne Denkweisen

Die Frage, auf die es ankommt, ist nicht, ob Architekten in autoritären Gesellschaften bauen dürfen, sondern was sie bauen und wie sie Architektur verwirklichen.

Coop Himmelb(l)au wurde 1968 mit dem Ziel gegründet, die einer offenen Gesellschaft (siehe Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde) entsprechende Architektur zu entwickeln. Die Entwicklung unserer Formensprache (jeder hat recht – aber nichts ist richtig) wurde später als Dekonstruktivismus bezeichnet. Eine internationale Architekturströmung, zu deren Miterfindern wir zählen.

Subalterne Denkweisen, wie im ahnungslos wirkenden Kommentar "Coop Himmelb(l)au auf der Krim: ein Solo für Putin" im Wiener Stadtmagazin Falter zu lesen – "Hier verwirklicht er (Prix) futuristische Entwürfe, die aus dem Bauch heraus skizziert und mit viel Computertechnik in angewandte Statik übersetzt werden" –, führen dann zur Verunglimpfung von Selbstverwirklichung als Narzissmus. Eine Buchempfehlung: Die österreichische Seele von Erwin Ringel – alt, aber noch immer gut.

Dass unsere Architektursprache eine antiautoritäre ist (Brechung der militärischen Achsen und der Herrschaftssymmetrien), kann man an unseren Projekten seit 1968 bis heute international ablesen.

Kein Konsumprodukt

Zu denken gibt mir der Artikel "Dunkle Wolken über Coop Himmelb(l)au: Public Shaming und ethische Kritik als politisches Risiko" im Eastblog der Universität Wien, in dem das Verhalten unseres Büros mit dem von VW in China in Beziehung gesetzt wird. Die zum Teil sehr klugen Analysen über die hohen politischen Risiken von international tätigen Unternehmen in Ländern der östlichen EU-Nachbarschaft sowie Russland und China münden aber in einen merkwürdigen Vergleich von Produkten der Großkonzerne und den von Architekten geplanten Gebäuden. Es ist erstaunlich, wie wenig bekannt ist, dass Architektur kein Konsumprodukt ist, sondern die Synthese von einem Programm und dessen formaler Übersetzung.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass wiederkehrend ein wahrer Kanon der Moral auf die Schultern von fast allen internationalen Architekturbüros geladen wird. Stellvertretend für die gesamte Gesellschaft werden auf uns Architekten abstrakte und lebensfremde Normen des wohlfeilen Verhaltens übertragen, die an anderer Stelle nicht einmal ansatzweise mit dieser Vehemenz gefordert sind.

Sollten die moralischen Standards, die Kritiker von Architekten einfordern, dann nicht von allgemeiner Gültigkeit sein? Wie haben wir uns das praktische Handeln in einer globalisierten Welt unter Berücksichtigung dieser geforderten Prinzipien vorzustellen?

PS: Die Ahnungslosigkeit in Stilfragen der Architektur zeigt sich auch in der Bemerkung eines Kritikers, der behauptet, dass unser Entwurf für die Wien Arena eher an einen Flughafenterminal in einer "ehemaligen Sowjetrepublik" nebst Tower erinnert. Stimmt natürlich nicht. Unser Vorbild war der nordkoreanische Flughafen in Pjönjang. (Wolf D. Prix, 14.1.2021)