Wenn Joseph Biden als nächster US-Präsident angelobt wird, bleiben ihm genau 16 Tage für eine Verlängerung des einzigen noch aktiven Abkommens zur Begrenzung nuklearer Waffen – New Start. Es limitiert die Anzahl der abschussbereiten Trägersysteme und Bomber strategischer Atomwaffen auf 800 und die Sprengköpfe auf 1.550 Stück. Läuft es aus, wäre es das erste Mal seit mehr als einem halben Jahrhundert, dass einem potenziellen Wettrüsten der beiden großen Atommächte USA und Russland keine Grenzen gesetzt sind. Wird es verlängert, könnte es jederzeit durch ein noch umfassenderes ersetzt werden.

Kaum jemand außerhalb der innersten Geheimdienstzirkel kennt die tatsächlichen Stückzahlen und Nuklearstrategien aller Länder so gut wie der Atomwaffenexperte Hans Kristensen, Direktor des Washingtoner Nuclear Information Project. Seit etwa zehn Jahren schwinge das Pendel unaufhaltsam in Richtung Aufrüstung, sagt Kristensen. Wenn man auch China an den Verhandlungstisch bringen möchte, müsse man ihm auch endlich etwas anbieten, so der dänische Atomwaffenexperte.

STANDARD: Der künftige US-Präsident Joe Biden hat während des Wahlkampfs angekündigt New Start verlängern zu wollen. Russlands Präsident Wladimir Putin will die maximale Verlängerung um fünf Jahre. Geht es wirklich nur mehr um die Dauer, oder kann das noch scheitern?

Kristensen: Es sieht so aus, als würden beide Seiten die Verlängerung wollen. Es gab einige Strategen, die für eine kürze Verlängerung plädierten, um den Diplomaten die Dringlichkeit eines Ersatz- oder Nachfolgeabkommens zu verdeutlichen. Das Argument war, wenn sie fünf Jahre Zeit hätten, würden sie eventuell bummeln. Und das kann man aus logischen oder taktischen Gründen schon nachvollziehen, aber es kommt einfach darauf an, wie beharrlich und spezifisch Biden und Putin ihre Verhandler dazu drängen werden, einen Plan für die nächste Phase der nuklearen Rüstungskontrolle zu entwickeln.

STANDARD: Wie könnte so ein Nachfolger von New Start aussehen?

Kristensen: Es gibt einige Modelle. Einerseits könnte es zu weiteren Reduktionen kommen. Eigentlich hätte ja ein drittes Abkommen folgen sollen, das die Zahl der Gefechtsköpfe auf 1.000 oder weniger reduziert hätte. Außerdem hätte es breiter werden können und auch die in Reserve befindlichen Sprengköpfe sowie die taktischen Atomwaffen einrechnen sollen. Es stellt sich also die Frage, ob sie hauptsächlich reduzieren oder ein umfassenderes, breiteres Abkommen wollen. Ein breiteres könnte auch konventionelle Waffen und Waffenabwehrsysteme umfassen. Ein Nachfolgeabkommen wird jedenfalls komplexer als das New-Start-Abkommen.

STANDARD: Aber wie sollte das perfekte Abkommen aussehen?

Kristensen: Das perfekte Abkommen würde alle Nuklearstreitkräfte umfassen, die strategischen, die taktischen, die einsatzbereiten und jene in Reserve. Aber da muss natürlich auch die Frage gestellt werden, was überhaupt erreicht werden soll. New Start wirkt in seiner Konzeption noch wie ein Produkt des Kalten Krieges, wo man offensive Möglichkeiten zu reduzieren versuchte. Nach Ende des Kalten Krieges gab es aber einen Paradigmenwechsel. Es ging darum, die nukleare Abrüstung zu managen. Es ging um Vorhersehbarkeit. Plötzlich finden sich Russen und US-Amerikaner aber wieder in einer Aufrüstungsspirale. Da geht es auf einmal wieder mehr um das eigene Überleben und die mögliche Abschreckung anderer.

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Donald Trump war der erste US-Präsident seit Jahrzehnten, der keinen Deal zur Eindämmung der nuklearen Gefahr mit Moskau zustande bekam.
Foto: AP Photo/Susan Walsh

STANDARD: Donald Trumps Team agierte ziemlich naiv in seinen Versuchen, China an den Verhandlungstisch zu drängen. Wie holt man die aufstrebende Weltmacht an Bord?

Kristensen: Es wäre wichtig, die nukleare Rüstungskontrolle auf andere Player auszuweiten. Aber natürlich ist es schwierig, mit Akteuren zu verhandeln, deren Kapazitäten so weit auseinanderklaffen. Egal was China in den nächsten zehn Jahren macht, es wird den USA oder Russland nicht einmal ansatzweise nahekommen in puncto Nuklearwaffen. Zu behaupten, es müsse sich schämen, nicht Teil eines Abkommens zu sein, wie Trump es versuchte, scheiterte aus offensichtlichen Gründen kläglich. Die viel zu späten Annäherungsversuche waren zudem schlichtweg inkompetent. Wie bekomme ich so jemanden an den Verhandlungstisch? Nur indem ich ihm etwas anbiete, was er haben will. Die Trump-Regierung hat China aber nichts angeboten.

STANDARD: Was könnten die Chinesen wollen?

Kristensen: Man wird so schnell nicht auf ein ähnliches Niveau kommen, also muss man vielleicht mit vertrauensbildenden Maßnahmen kommen. Ein Entgegenkommen im Südchinesischen Meer, eine Änderung der Strategie vor den Küsten Chinas, eine engere Einbindung in Waffenpläne der näheren Zukunft – etwas, das den Ball ins Rollen bringt und die Rüstungsexperten auf beiden Seiten in Kontakt treten lässt. Darauf kann man später vielleicht aufbauen und substanziellere Abkommen schließen.

STANDARD: Die Obama-Regierung sagte, zwei Drittel der US-Atomwaffen würden immer noch genügen, um alle strategischen Ziele der USA zu erreichen. Wie tief liegt die Latte wirklich?

Kristensen: Wo dein absolutes Minimum liegt, hängt nur von deiner Strategie ab. Wenn du so wie die USA eine Counterforce-Strategie hast, das Ziel verfolgst, jederzeit für dich bestimmte Atomwaffen jagen zu können, um Schaden abzuwehren, und gleichzeitig den Gegner in einer permanenten Gefährdungslage halten willst, dann brauchst du ein großes und effizientes Arsenal. Wenn du die Nuklearkapazitäten deines Feindes nicht komplett ausschalten möchtest, aber glaubhaft machen kannst, dass du ihm dennoch massiv schaden kannst, reicht ein kleineres. Niemand außer den USA und Russland glaubt, dass du mehr als wenige hundert Atomwaffen für eine ordentliche Abschreckung brauchst – deren Vorstellung eines Nukleararsenals ist komplett entrückt vom Rest der Welt. Aber natürlich: Man könnte problemlos ein Drittel des laut New Start Erlaubten kürzen und würde nichts an Schlagkraft verlieren. Die Overkill-Kapazität ist enorm.

STANDARD: Und darunter?

Kristensen: Wenn das Weiße Haus dem Pentagon befiehlt, einige seiner Ziele zu adaptieren, kein Problem. Wenn man den Offizieren weniger Anforderungen vorgibt, kommen sie auch mit weniger Waffen aus. Wenn man ihnen sagt, sie müssen dieselbe Schlagkraft mit weniger Waffen haben, werden sie sagen, das geht sich nicht aus. So einfach ist das.

STANDARD: Was hat Trump in Bezug auf Atomwaffen erreicht oder verabsäumt?

Kristensen: Er hatte recht wenig Einfluss auf die aktuelle Struktur der Streitkräfte. Das vom Kongress verabschiedete Modernisierungsprogramm wurde unter Obama auf den Weg gebracht. Trump hat nur viel mehr Geld dafür bereitgestellt – für die Infrastruktur, um die Waffen zu bauen, Fabriken, Simulatoren und dergleichen. Trump hat eine begrenzte Zahl schwacher Sprengköpfe für U-Boote abgesegnet. Diese sind im Einsatz. Die viel stärkeren unter Wasser abgefeuerten Raketen, die er in Auftrag gegeben hat, sind nicht weit fortgeschritten und werden die Biden-Ära wohl nicht überleben. Sein Einfluss hielt sich sehr in Grenzen.

Die USA und Russland besitzen rund 90 Prozent des globalen Atomwaffenarsenals.
Foto: Brendan SMIALOWSKI / AFP

STANDARD: Was hat sich sonst noch geändert?

Kristensen: Seit der russischen Invasion der Ukraine hat sich viel geändert. Wir sehen jährlich größere und offensivere Übungen, Atomwaffen wurden direkter in die Verteidigungsstrategie der Nato eingewoben.

STANDARD: Am 22. Jänner tritt der Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft. Welchen Effekt wird er haben?

Kristensen: Unter den Nichtnukelarwaffenstaaten hat sich einfach das Gefühl breitgemacht, dass die Atomwaffenstaaten nicht einmal ansatzweise ihrer Verpflichtung zur Abrüstung laut den geltenden Verträgen nachgekommen sind. Tatsächlich hat sich die Geschwindigkeit der Abrüstung massiv verlangsamt, Rüstungskontrollverträge wurden gebrochen und neue Waffensysteme werden vorgestellt, Militärbudgets erhöht und Übungen ausgeweitet. Die Gefahr steigt.

STANDARD: Aber wie reagieren sie darauf, die Nuklearwaffenstaaten?

Kristensen: Sie sind verärgert über den Vertrag, ganz klar. Es ist wie ein erhobener Zeigefinger ins Gesicht nach dem Motto: "Reißt euch zusammen. Haltet eure Versprechen." Die Atommächte haben also versucht, den Vertrag zu diskreditieren, etwa für fehlende Verifikationsmöglichkeiten. Aber obwohl keiner der Atomwaffenstaaten und niemand, der unter ihrem nuklearen Schutzschirm steht, dem Verbotsvertrag beigetreten ist, hat er schon eine Diskussion ausgelöst. Noch mehr Staaten werden beitreten. Und wenn die Atommächte ihren Ton nicht ändern, werden die zwei Lager weiter auseinanderdriften. Dabei sollten sie auf sie zugehen und konstruktive Gespräche für einen Plan für die Zukunft suchen.

STANDARD: Gerade unter jungen Menschen gibt es in Staaten, die unter dem nuklearen Schutzschirm stehen, aber viele Gegner der Bombe.

Kristensen: Ja, und das könnte sich zum Problem für die Nuklearwaffenstaaten entwickeln. Sie haben es nicht geschafft, die Brücke zu schlagen. Die politische Elite will oft etwas anderes als die Leute, die sie wählen, und das könnte der öffentlichen Unterstützung für ein Atomprogramm zuwiderlaufen. Das bringt Instabilität. Interessanterweise gibt es zwei Denkarten. Sobald die nukleare Gefahr steigt, sagt ein Teil: "Wow, die Dinger sind gefährlich! Die sollten wir loswerden oder verbieten!" Und der andere Teil will welche besitzen und weiterentwickeln, um potenzielle Feinde abzuschrecken.

STANDARD: Ich bin 27. Erlebe ich noch eine nuklearwaffenfreie Welt?

Kristensen: Ich hoffe es für Sie, aber es sieht gerade überhaupt nicht danach aus. Es entwickelt sich eher in die andere Richtung. Seit knapp zehn Jahren schwingt das Pendel in die falsche Richtung. Manchmal müssen sich die Dinge erst zum Schlechten entwickeln, bevor sie besser werden können. Rüstungskontrollverträge, Entspannungspolitik, Abrüstung: Das waren Reaktionen, angestoßen von Menschen, die in machtvolle Positionen kamen und der Meinung waren, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Dass die Welt enden wird, wenn wir nicht schnell etwas ändern. Als der Kalte Krieg endete, entspannte man aber zu lange, und jetzt holt uns das allmählich ein. Und plötzlich haben viele ein Bauchgefühl, das ihnen sagt, man müsse sich gegen die bösen Russen wehren – und die Chinesen kommen. Und diese reagieren wieder auf die USA. Es herrscht die komplette Sandkistenatmosphäre. Was es nun bräuchte, sind große Leitfiguren, vorausschauende, die uns aus dieser Aktion-Reaktion-Spirale herausholen und langfristig und lösungsorientiert denken. (Fabian Sommavilla, 19.1.2021)