Laut aktuellen Angaben benötigen 4,5 Millionen Menschen rund um Tigray akut Nahrungsmittelhilfe.

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Mekelle / Addis Abeba – Auch nach dem offiziellen Ende des Militäreinsatzes der Regierung in der äthiopischen Unruheregion Tigray ist die Gefahr eines Übergreifens des Konflikts auf andere Landesteile nach Ansicht des Politikwissenschafters Belachew Gebrewold nach wie vor sehr hoch. Hohes Konfliktpotenzial sieht Gebrewold in Tigrays Nachbarregion Afar sowie in der Region Benishangul-Gumuz, wie er im APA-Gespräch erklärt.

Hintertür Benishangul-Gumuz

Rebellen der Volksbefreiungsfront von Tigray (Tigray People's Liberation Front / TPLF), die sich gegen die Regierung von Abiy Ahmed stellen, werden nach Ansicht des Professors und Studiengangsleiters am Management Center Innsbruck (MCI) weiterhin versuchen, Äthiopien zu destabilisieren. Die im Norden beheimateten Tigray regierten das 110-Millionen-Einwohnerland für viele Jahre mit harter Hand, wurden aber von Abiy aus ihren Ämtern vertrieben. Zwar vermeldete der Premier im Dezember einen Sieg über die TPLF und setzte eine der Zentralregierung in Addis Abeba unterstehende Übergangsregierung ein, die Volksbefreiungsfront will den Kampf aber nicht aufgeben.

"Viele Funktionäre aus Tigray werden versuchen, über den Sudan zu fliehen, um das Land von dort aus zu destabilisieren", so Gebrewold. Einige könnten nach Ansicht des aus Äthiopien stammenden Politologen auch über den an den Sudan angrenzenden Bundesstaat Benishangul-Gumuz wieder einreisen, um dort ihre Agenda weiter zu verfolgen. Das nordwestlich gelegene Benishangul-Gumuz gilt als instabil, Ende Dezember wurden dort bei einem Angriff über 200 Menschen getötet. Am Dienstag gab es einen weiteren Überfall mit Dutzenden Toten, wie die amtliche Menschenrechtsorganisation am Mittwoch bekanntgab.

Humanitäre Probleme

Die Angst der Regierung, dass Rebellen fliehen oder sich unter Vertriebene mischen könnten, ist nach Einschätzung des Wissenschafters der Grund für die strikten Kontrollen der Grenzen Tigrays durch das äthiopische Militär, wodurch auch der Zugang für humanitäre Helfer eingeschränkt wird. "Darunter leidet natürlich die Bevölkerung, das ist eine Gratwanderung für Abiy." Laut aktuellen Angaben benötigen 4,5 Millionen Menschen rund um Tigray akut Nahrungsmittelhilfe.

Auch die Region Afar, in der Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) am Freitag ein Camp für Binnenvertriebene besuchen wird, birgt Probleme. "Es gibt dort große Unzufriedenheiten", sagt Gebrewold. Die Afar-Rebellen fordern mehr Autonomie für ihren Bundesstaat. Die Region wurde bekannt, als dort 1974 das Skelett von "Lucy", eines weiblichen Urmenschen, gefunden wurde, aber auch, weil immer wieder Touristen entführt wurden.

Im Osten könnte sich die von Somalia aus operierende islamistische Terrormiliz Al-Shabaab die instabile Lage zunutze machen, fürchtet der Experte. "Weil äthiopische Truppen aus Somalia wegen des Konflikts in Tigray dorthin abgezogen wurden, ist Äthiopien vom Osten her verwundbar." Die TPLF sei zwar nicht islamistisch, aber: "Der Feind meines Feindes ist auch mein Freund", so Gebrewold.

Weitere Spannungen

Ein weiterer destabilisierender Faktor für Äthiopien könnte laut Gebrewold die Unzufriedenheit der größten Ethnie im Land, der Oromo, mit Abiys Politik sein. Diese Unzufriedenheit hatte sich etwa vergangenen Sommer nach dem Tod eines bekannten Musikers entladen und führte zu tagelangen landesweiten Protesten mit mehr als 200 Toten.

Hinzu kommen Spannungen mit den anderen Ländern in der Region: Mit dem Sudan und Ägypten liegt Äthiopien wegen eines geplanten Staudammprojekts im Clinch. Der künftig größte Staudamm Afrikas (Grand Ethiopian Renaissance Dam / GERD) wird von Äthiopien am Blauen Nil erbaut und soll das Land mit Strom versorgen – insbesondere das flussabwärts gelegene Ägypten fürchtet dabei aber um seine Wasserversorgung. Mit dem Sudan gibt es zudem jahrelang ungelöste Grenzstreitigkeiten.

Mit dem nördlichen Nachbarland Eritrea gibt es zwar ein Friedensabkommen, für das Abiy 2019 mit den Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Diese neue Freundschaft ist aber den Tigray, die Eritrea als Erzfeind erachten, ein Dorn im Auge. Berichten zufolge soll Eritrea im Tigray-Konflikt auch Truppen zur Unterstützung des äthiopischen Militärs gesandt haben. Langfristig könnte diese Verbindung für Abiy problematisch werden, meint Gebrewold. Denn es sende das Signal, dass die Regierung "gegen das eigene Volk mit dem Feind kooperiert".

Dürren und Heuschreckenplagen

Neben all den ethnischen und politischen Spannungen plagten Äthiopien in den vergangenen Jahren immer wieder Dürren und Heuschreckenplagen, was zu einer zusätzlichen Anspannung der humanitären Lage führte. Die Corona-Pandemie traf das Land hingegen weniger stark als zunächst befürchtet – abgesehen von den wirtschaftlichen Folgen, von denen das Land freilich nicht ausgenommen war.

Bisher verzeichnet das Land laut offiziellen Angaben rund 130.000 Infektionen und etwa 2.000 Tote. Das liegt zum einen an der weniger starken Vernetzung zwischen Stadt und Land – viele ländliche Regionen sind nur schwer zugänglich –, zum anderen vermutlich an den Temperaturen. Dies führe auch dazu, dass sich die Bevölkerung viel mehr im Freien aufhalte, so Gebrewold. Zudem würden Verstoße gegen die Sicherheitsmaßnahmen rigoroser bestraft als in westlichen Demokratien, was zu deren strikter Einhaltung beitrage. Möglicherweise führt aber auch eine geringere Testkapazität zu niedrigeren Fallzahlen. (APA, 14.1.2021)