Das Coronavirus hat uns weiter im Griff. Nachdem es nun endlich einen Impfstoff gibt, reißen die Hiobsbotschaften über Mutationen und deren Verbreitung nicht ab. Warum mutiert das Virus, werden die Impfstoffe dennoch helfen, und wie kann man sich am besten schützen – diese Fragen aus der STANDARD-Community haben wir Andreas Bergthaler, Leiter der Forschungsgruppe Virale Pathogenese am CeMM in Wien und Mitglied des STANDARD-Corona-Fachrats, gestellt.

Was kann man über die Virusmutationen sagen?
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Frage: Wie kommt es überhaupt zu Virenmutationen, und wie beurteilen Sie die Theorie?

Andreas Bergthaler: Mutationen an sich entstehen zufällig. Das bedeutet, dass sich theoretisch ständig alle der 30.000 Buchstaben des Sars-CoV-2-Genoms verändern. Jedoch setzen sich in der Regel nur einzelne Mutationen durch, die entweder nicht abträglich sind oder sogar einen Vorteil für das Virus bieten. Dies nennt man Selektion, und es hängt von der jeweiligen Situation ab, der das Virus ausgesetzt ist. Zum Beispiel führt die Replikation in einer anderen Wirtsspezies dazu, dass sich das Virus auf diese neue Umgebung mithilfe neuer Mutationen einstellen wird.

Auch Immunantworten bewirken einen Selektionsdruck, den das Virus mit den genannten Werkzeugen von Mutation und Selektion zu umgehen versucht. In Zellkultur kann man sogenannte "Antikörper-Escape-Mutationen" selektieren, indem man das Virus einer geringen Antikörperkonzentration aussetzt. Genauso ist es vorstellbar, dass Immunantworten im Körper zu solchen Escape-Mutationen führen. Es gibt hierzu erste Berichte im Zusammenhang mit Antikörperbehandlungen. Auch besitzen die südafrikanische (B.1.351) und die brasilianisch-japanische (P.1) Variante Mutationen wie E484K, welche die Neutralisation durch Antikörper zu reduzieren scheinen. Neben Antikörpern spielen T-Zellen eine zentrale Rolle in der Viruskontrolle. Unsere Forschungsgruppe konnte zum ersten Mal zeigen, dass sich virale Escape-Mutationen auch in Epitopen von CD8-T-Zellen ("T-Killerzellen") finden.

Zusammengefasst ist diese Theorie, wie vom Poster beschrieben, sicherlich nicht von der Hand zu weisen, und man wird in den nächsten Monaten genau analysieren müssen, wie Sars-CoV-2 auf Immunantworten bei natürlichen Infektionen, Impfungen oder auch Antikörperbehandlungen reagiert.

Frage: Wie verhält es sich mit dem Anstieg von Mutationen?

Bergthaler: Stimmt. Je mehr Infektionsfälle wir haben, umso öfter hat das Virus die Chance, neue Mutationen anzusammeln. Das sollte auch als eines der Hauptargumente gesehen werden, warum die Infektionszahlen möglichst gegen null gedrückt werden sollten. Abgesehen davon sehen wir seit Dezember eine neue Situation in der Evolution von Sars-CoV-2. Bis dahin ist man in der Regel von einer relativ gemächlichen und kontinuierlichen Mutationsrate von circa zwei Mutationen pro Monat ausgegangen.

Mit dem Auftreten der englischen Variante (B.1.1.7), die im September erstmals in Großbritannien sequenziert wurde und innerhalb von drei bis vier Monaten das Infektionsgeschehen in verschiedenen Ländern übernommen hat, sind wir nun damit konfrontiert, dass Varianten mit einer sprunghaften Ansammlung von sehr vielen Mutationen auftreten. Im Fall von B.1.1.7 sind das 17 Mutationen, die die Viruseiweißstoffe verändern, sowie weitere sechs Mutationen, die sich angesammelt, aber wahrscheinlich keinen Effekt haben. Diese Erkenntnis hat sich mit dem Auftreten weiterer Varianten wie B.1.351 und P.1 gefestigt. Daher ist es von zentraler Bedeutung zu verstehen, welche Umstände das Auftreten solcher Varianten begünstigen. Darüber hinaus ist es absehbar, dass wir auf weitere Sars-CoV-2-Varianten treffen werden, weshalb ein engmaschiges Monitoring mittels Virusgenomsequenzierung noch wichtiger werden wird. Zuletzt wird man auch ständig untersuchen müssen, inwieweit die genehmigten Impfstoffe auch gegen neu auftretende Varianten schützen, um gegebenenfalls rasch die Impfstoffe zu modifizieren, damit sie verschiedene Varianten abdecken.

Frage: Wie beurteilen Sie die südafrikanische im Vergleich zur britischen Variante? Und gibt es saisonale/klimatische Einflüsse?

Bergthaler: Die südafrikanische Variante 501.V2 (bzw. B1.351) hat einige Mutationen angesammelt, die wir in der englischen Variante (B.1.1.7) nicht sehen. Zu diesen Mutationen wurden in der Vergangenheit schon Laborversuche durchgeführt, die darauf hindeuten, dass sie unter Umständen eine bessere Bindung des Virus an die Zellen bewirken. Darüber hinaus erleichtern Mutationen wie zum Beispiel E484K der südafrikanischen Variante wahrscheinlich, der Neutralisation durch Antikörper besser zu entkommen. Diese sowie weitere Mutationen finden sich auch in der brasilianisch-japanischen Variante (P.1). Weitere Forschung ist nötig, um die Kombination dieser Mutationen und deren Auswirkungen im Hinblick auf Infektiosität, Krankheitsverlauf, Immunantworten und auch Reinfektionen zu verstehen.

Zu saisonalen und klimatischen Einflüssen gibt es einige Studien im Hinblick auf Temperatur und Luftfeuchtigkeit, aber auch dafür sind weitere gut geplante Forschungsstudien nötig.

Frage: Können Genesene oder Geimpfte von der Virusmutationen dennoch betroffen sein?

Bergthaler: Zurzeit ist noch nicht klar, inwieweit Mutationen wie E484K, die sowohl in der südafrikanischen als auch in der brasilianisch-japanischen Variante zu finden sind, den Impfschutz durch die aktuellen Impfstoffe beeinflussen. Eine weitere Frage stellt sich hinsichtlich möglicherweise erhöhter Reinfektionsraten durch die neuen Variante, das heißt, dass der Immunschutz durch die Erstinfektion eventuell nicht ausreicht, um vor einer weiteren Infektion durch eine neue Variante zu schützen. Dazu schaut die internationale Forschungsgemeinde gerade sehr interessiert auf das Infektionsgeschehen in Manaus, Brasilien, wo trotz einer 75-Prozent-Infektionsrate im Jahr 2020 nun eine sehr starke Erhöhung der Neuinfektionen zu beobachten ist.

Frage: Auch diese Frage bezieht sich auf die Impfstoffe. Kann man von einem Impfschutz auch vor den Mutationen ausgehen?

Bergthaler: Bei der englischen Virusvariante sprechen die bisherigen Daten dafür, dass ein Impfschutz durch die aktuellen Impfstoffe gegeben ist. Für die anderen Virusvarianten muss dies erst noch erhoben werden. Dabei könnte der Vorteil der mRNA-Impfstoffe, dass sie relativ rasch adaptierbar sind für neue Mutationen, noch eine wichtige Rolle spielen.

Frage: Wie viel wird sequenziert? Und hängt die zweite Welle mit der Mutation zusammen?

Bergthaler: Im März 2020 haben wir unsere österreichische Sars-CoV-2-Sequenzierungsinitiative am Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Akademie der Wissenschaften gestartet und Anfang April die ersten Sars-CoV-2-Virusgenome aus Österreich veröffentlicht. Dies war nur möglich in enger Zusammenarbeit mit vielen Partnern wie der Medizinischen Universität Wien, der Ages, der Medizinischen Universität Innsbruck und weiteren zehn Institutionen in ganz Österreich. Bis jetzt haben wir mehr als 2.000 Proben sequenziert und mehr als 1.300 Vollvirusgenome in die internationale Datenbank Gisaid geladen. Damit stammen mehr als 99 Prozent aller "österreichischen" Virusgenome von unserer Initiative. Das entspricht 0,35 Prozent aller positiven Fälle seit Beginn der Pandemie.

Das European Centre for Disease Control (ECDC) hat zuletzt Statistiken dazu mit den Zahlen ab September 2020 erstellt. Hierfür liegt Österreich mit den aktuellen Gisaid-Einträgen bei 0,17 Prozent, und wir befinden uns damit im guten Mittelfeld. Länder in Osteuropa, aber sogar Deutschland haben bis jetzt deutlich weniger sequenziert als wir. Gleichzeitig sollten wir den Anspruch haben, uns mit den Besten zu messen. Dazu zählen in Europa Island, das aufgrund einer führenden Genetikfirma jeden (!) positiven Fall sequenziert, aber auch Länder wie Dänemark und Großbritannien, die zwölf Prozent beziehungsweise fünf Prozent aller Sars-CoV-2-Fälle sequenzieren. Die Zahlen der Virussequenzierungen in Österreich werden in nächster Zeit deutlich ansteigen, da wir in enger Kollaboration mit der Ages eine Erhöhung der Ganzgenomsequenzierungen auf 400 Proben pro Woche vereinbart haben. Solche Sequenzierungen sind sehr aufwendig, involvieren ein Team von circa zehn bis 15 Personen und dauern in der Regel eine Woche.

Wichtig ist auch festzuhalten, dass wir mit diesen Daten auch pandemierelevante Grundlagenforschung durchführen und viele Forschungsprojekte in ganz Österreich unterstützen. Zuletzt haben wir dazu österreichische Superspreading-Cluster in der ersten Pandemie mittels Virussequenzierung und epidemiologischem Contact-Tracing rekonstruiert und konnten auch berechnen, dass durchschnittlich 1.000 Viruspartikel für eine Neuinfektion nötig sind.

Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich noch nicht wirklich abschätzen, wie sehr die englische Variante die zweiten Wellen in Europa beeinflusst. Man muss sich das Land für Land jeweils genau anschauen und zum Beispiel auch berücksichtigen, wie Lockdown und Lockerungsmaßnahmen die Infektionszahlen beeinflussen. Wenngleich es schon sehr gute Studien dazu gibt, ist es doch ein inhärentes Problem der derzeitigen Situation, dass man die Wirkung einzelner Faktoren und Maßnahmen meist nicht in Isolation betrachten kann.

Sequenzierungen sind sehr aufwendig und dauern eine Woche.
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Frage: Wie viel wird im Vergleich zu anderen Ländern sequenziert, und wann wurde in Österreich damit begonnen?

Bergthaler: Zum Teil wurde die Frage bereits oben beantwortet. In Österreich, wie auch vielen anderen Ländern inklusive Dänemark, wurde diese Virussequenzierung aus ursprünglich akademischer Eigeninitiative heraus etabliert. In England wurden Anfang 2020 20 Millionen Pfund für Virussequenzierungen zur Verfügung gestellt. Bei uns war das nicht so, und es gab weder ein behördliches Mandat noch eine Finanzierung (abgesehen von einem kleinen, aber wichtigen Grant vom Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds, WWTF) und auch kein zusätzliches Personal. Ich möchte deshalb betonen, dass die ersten 1.000 Virusgenome in Österreich nur deshalb sequenziert werden konnten, weil ein großartiges interdisziplinäres Team von Technikern, Doktoranden und Bioinformatikern freiwillig und gemeinsam an einem Strang gezogen und zeitweise dabei sogar die eigenen Projekte vernachlässigt hat. Spätestens seit dem vierten Adventsonntag ist es politisch nun klar geworden, dass diese Forschungsaktivitäten sehr wichtig sind für die Bekämpfung der Pandemie. Mithilfe einer intensivierten Zusammenarbeit mit der Ages und anderen Partnern können wir nun die Anzahl an Sequenzierungen deutlich erhöhen.

Parallel dazu hat unser Schwesterinstitut, das Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Akademie der Wissenschaften, mit Sars-Seq eine neue Sequenzierungsmethode entwickelt, die es erlaubt, für eine sehr große Anzahl an Proben sehr schnell Teile des Sars-CoV-2-Genoms zu sequenzieren und damit die bekannten Varianten zu identifizieren. Zusammen mit mutationsspezifischen PCRs ergänzen sich die verschiedenen Methoden und ermöglichen ein gutes Monitoring, um sowohl schon bekannte Virusvarianten zu verfolgen als auch zukünftige Veränderungen zeitnah festzustellen.

Diese und andere Initiativen aus der universitären Forschung wie zum Beispiel Gurgeltests, Coron-A-Kläranlageninitiative und Simulationsforschung veranschaulichen, wie wichtig Forschung gerade in diesen Zeiten ist. Deshalb ist es doch überraschend, dass es bis dato kaum zusätzliche Unterstützung für die österreichische Grundlagenforschung gibt und Projektausschreibungen weiterhin oft bis zu ein halbes Jahr dauern, bevor man erfährt, ob man die Finanzierung für das vorgeschlagene Forschungsprojekt erhält. Ein halbes Jahr ist in so einer dynamischen Zeit wie einer viralen Pandemie ein sehr langer Zeitraum.

Frage: Vielfach tauchen in den Foren zur Berichterstattung über die Mutationen Fragen auf, wie man sich am besten schützen kann und ob die bisherigen Maßnahmen (MNS, Abstand …) ausreichen. Wie beurteilen Sie das?

Bergthaler: Die neu aufgetretenen Varianten sind letztlich immer noch ein Sars-CoV-2-Virus, auch wenn sie zehn bis 30 Mutationen angesammelt haben. Die gute Nachricht ist daher, dass die bekannten Präventionsmaßnahmen grundsätzlich weiterhin wirksam sind, wenn sie konsequent befolgt werden. Wenn man die Reduktion seiner Sozialkontakte ernst nimmt, so führt dies dazu, dass man auch dem Virus – egal welcher Variante! – die Möglichkeit der Übertragung nimmt. Darüber hinaus stellen die zusätzlichen Maßnahmen wie das vermehrte Tragen von FFP2-Masken weitere Waffen in unserem Arsenal im Kampf gegen Sars-CoV-2 dar, die in ihrer Gesamtheit hoffentlich bald die Infektionszahlen stark zu reduzieren helfen. (Judith Wohlgemuth, 25.1.2021)