Man muss nicht alles verstehen. Aber Fakten sind Fakten. Deshalb sind Darts-Werfen, Billard oder Schach Sport. Auch die gewässerferne Angelauswurfsimulation des Fliegenfischens, sogenanntes Casting, ist Sport. Doch auf einer Matte zwischen Handstand, Kopfstand und komplexen Balancepositionen wechseln nicht: Yoga ist kein Sport, sondern ... ja, was eigentlich?

Es gibt eine offizielle, amtliche Definition von Sport: Sport ist in Österreich, was in einem Verband organisiert ist und von der BSO, also der Bundessportorganisation "Sport Austria", gelistet ist – und worin Wettkämpfe ausgetragen werden: Laut der BSO-Statistik 2020 gibt es in Österreich 370 Schachvereine mit 8.433 Aktiven. Billardvereine scheinen zwar keine auf, aber doch 4.113 organisierte Spielerinnen und Spieler. Yoga? Kein Thema. Dabei gibt es laut der "Yoga-Union", der Interessenvertretung der Branche, allein in Wien 200 Studios. Österreichweit arbeiten 6.000 Personen als Yogalehrerinnen oder -lehrer. Trotzdem gilt: Yoga ist kein Sport.

Yoga ist mehr als Handstand oder Dehnung – zumindest für Yogalehrerin Eva Lillan. Es geht auch um Meditation, Ruhe und die Einstellung zum Leben.
Foto: Lillan

Den Massen, die in die Studios pilgern, dem Hype und dem noch immer wachsenden Markt sind amtliche Definitionsspielchen allerdings egal. Yogaprofis freilich nicht immer ganz. Wobei sich Szene und Branche nicht wirklich einig sind – wenn auch mit einer anderen Stoßrichtung: Ist Yoga nur Sport – oder doch viel mehr als Sport? Schließlich sind Idee und Konzept von Yoga jahrtausendealt. Verstehen und verstanden sich als ganzheitliche, alle Aspekte des Lebens tangierende Strategie, Geist und Körper in gesunden Einklang mit der Welt zu bringen. Das ist, ganz klar, mehr als Fitness, mehr als Sport. Noch dazu, wo ein zentrales Charakteristikum von Sport wegfällt: der Wettbewerb.

300 Liveklassen pro Monat

"Beim Yoga geht es um mich, meinen Körper heute, hier und jetzt. Jeder Mensch, jeder Tag ist anders: Wie soll es da ein Ziel, einen Vergleich, geschweige denn einen Wettbewerb geben können?", meint etwa Knut Rakus. Rakus betreibt mit seiner Frau Julie – einer Ärztin – in Wien drei gut gehende Studios. Zu den beiden Feelgood-Filialen in den Bobohochburgen Neubau und Wieden kam unlängst das langjährig eingeführte Yoga College in der Lugner City. Jetzt, im Lockdown, sind die Studios zwar geschlossen, aber mit monatlich 300 Onlineliveklassen gehören Julie und Knut Rakus zu den großen Playern der Wiener Szene. "Sport", sagt Rakus, "greift zu kurz: Die Bewegungen, die Körperübungen sind lediglich ein kleiner Teilaspekt. Yoga ist auch Atmung, Meditation, das Finden von Ruhe und Ausgeglichenheit – und die Einstellung zum Leben."

So weit der Anspruch, die Theorie. Der Blick auf die Erwartungen des Publikums, auf Vermarktung und – das vor allem – die Selbstpräsentation von Studios, Social-Media-Yoga-Starlets (fast ausnahmslos Frauen) und Kunden und Kundinnen zeigt meist ein gänzlich anderes Bild. Auch wenn das kaum jemand laut ausspricht. Kein Wunder: Alle heute kommerziell erfolgreichen Yogaprofis sind mit exakt dem Mindset gestartet, das Rakus predigt.

Blick über den Mattenrand

Auch die Yogalehrerin Eva Lillan. Trotzdem – oder gerade deshalb sagt sie: "Lifestyle-Yoga, also das, was in großen Studios praktiziert und von Betreibern wie Kunden eingefordert wird, jenes Yoga, das Säle und Conventions füllt, Yoga, das Geld bringt und mit dem Influencerinnen Quote und Werbeverträge einfahren, ist ganz klar vor allem eines: Sport." Die Wienerin lehnt sich da weit aus dem Fenster. Denn wer sagt, was vom ganzheitlich-vergeistigtem "yogischen" Lebensweg dann oft tatsächlich auf der Matte übrigbleibt, übernimmt die Rolle des kleinen Buben im Märchen Des Kaisers neue Kleider: Hand-, Kopfstand- oder Plankchallenges gibt es überall. Von Matte zu Matte wird oft argwöhnisch bis eifersüchtig um die bessere Haltung, den fließenderen Übergang gewetteifert – und mehr als Atmung und Einstellung zählen oft Marken und Outfit.

Yogamarketing-Overkill

Tatsächlich treibe oft weniger die Suche nach Ganzheitlichkeit als die hippen Bilder vom gesunden, vitalen, flexiblen und perfekten Körper Menschen in Studios: "Viele wollen primär Fitnessziele erreichen", akzeptiert Lillan diese "für länger Praktizierende oft ernüchternde Realität". Was da ausgespart werde, aber indirekt den "Sport"-Zugang bestätige: "Wenn man auf diese Weise Yoga macht, gibt es auch Verletzungen. Überlastete Handgelenke, Zerrungen: klassische Sportverletzungen eben."

"Lifestyle-Yoga, das Conventions füllt und Influencerinnen mit Quote und Werbeverträgen versorgt, ist Sport", sagt Eva Lillan.
Foto: Lillan

Der Grund ist ebenfalls meist "sportlich": übertriebener Ehrgeiz, das Nichtakzeptieren eigener Grenzen, Wettkampfdenken – also das Gegenteil von dem, was Rakus und Lillan unter Yoga verstehen. Doch genau das, so Lillan, interessiere viele Yogis eben so gar nicht: "Wenn du etwas anderes als Handstand, Kopfstand und Co machst, kommt recht rasch: ‚Bei dir liegt man ja nur rum.‘"

Auf der anderen Seite gibt es auch die Yogaverweigerer. Oft genug sind das Menschen, die vom (social-)medialen Yogamarketing-Overkill (vom "Yoga-Brot" über "Yoga-Müsli" bis zum "Yoga-Taxi" gibt es alles, Letztere sind allerdings vor allem in den Straßen des Yoga-Ballermanns, Ubut auf Bali, unterwegs) so angewidert sind, dass sie alles, was nach Yoga klingt, rigoros ablehnen. Oft genug, sagt die Wiener Personaltrainerin Beatrice Drach, seien das sportlich aktive Kunden und Kundinnen: "Dehnen, Stretching, Stabilisationseinheiten gehören zum Sport. Profis machen das stundenlang. Das ist im Grunde Yoga – aber man darf es für manche Leute auf keinen Fall so nennen."

Diese Sichtweise kennt auch der Sportwissenschafter Michael Koller von der Wiener "Sportordination". Koller plädiert deshalb für ein erweitertes Bild von "Sport": "Bei dem, was gesellschaftlich als ‚Sport‘ gesehen und akzeptiert wird, geht es oft nicht darum, ob das, was man tut, gesund oder gut für den Körper ist, sondern ums Gewinnen. Ums ‚Höher, schneller, weiter‘."

Es gibt einen Gewinner

Der Profisport sei da längst weiter: Yoga werde von Fußballmannschaften über Formel-1- bis zu Triathlon- und Radrennteams heute als ergänzendes, Koordination, Kraft und Beweglichkeit förderndes Trainingsmittel eingesetzt. Yoga, ergänzt der Sport- und Gesundheitspsychologe Georg Hafner, habe aber darüber hinaus einen Wesenszug, der "in einer Welt, in der es auf jede Frage immer nur eine klare Antwort geben darf, irritieren kann: Es ist sowohl als auch, wie Yin und Yang. Da gibt es den körperlichen, den sportlichen Aspekt – und den mentalen, geistigen, ganzheitlichen."

Das Übernehmen "ökonomischer und automatisierter Denkmuster, in denen alles eine genau definierte Schublade braucht", mache es deshalb oft schwer zu akzeptieren, "dass es nicht immer nur eine Wahrheit, eine Perspektive gibt." Die Frage, ob Yoga Sport, kein Sport oder deutlich mehr als Sport ist, so Hafner, sei zwar legitim, "ungeachtet der möglichen Antworten auf diese theoretische Frage gibt es in der Praxis dann ganz klare Gewinner: Yogapraktizierende."

Nachtrag: Dass Yoga kein Wettbewerbssport ist, stimmt nicht ganz. Die in Lausanne ansässige "International Yoga Sports Federation" (IYSF) wurde 2003 in Los Angeles gegründet und richtet regelmäßig "Yoga-Weltmeisterschaften" aus. Für die WM, die 2018 in Peking stattfand, war auch ein Wiener Yogalehrer über eine "Staatsmeisterschaft" qualifiziert. Trotz etlicher Kontaktversuche war er für den STANDARD leider nicht erreichbar.

(Tom Rottenberg, 17.1.2021)