Namacalathus-Fossilien lieferten erstaunliche Einblicke in die frühe Entwicklung der Mehrzeller.
Foto: Shore et al.,

Vor gut 600 Millionen Jahren begann die Blütezeit der mehrzelligen Lebewesen. In dieser Ära namens Ediacarium bevölkerten vielen merkwürdige Kreaturen die Meere. Besonders der letzte Abschnitt des Ediacariums vor 575 bis 541 Millionen Jahren ist von teilweise bizarren Fossilien geprägt, die nur wenig mit der Fauna nachfolgender Erdzeitalter gemein haben: Dicke Bakterienmatten bedeckten die Ozeanböden, die die Lebensgrundlage von Organismen weitgehend ohne fester Schalen bildeten. Bekannt ist beispielsweise Dickinsonia, ein ovales wenige Millimeter bis eineinhalb Meter großes Wesen, dessen Lebensweise sich aus ihrem überlieferten Bauplan bisher nicht erschließen ließ.

Vermeintliche Artenexplosion

Vor 550 Millionen Jahren, vermutlich als Folge eines Massenaussterbens, kam es zu einem radikalen Faunenwechsel. Die fremdartigen Ediacara-Kreaturen verschwanden und binnen fünf bis 10 Millionen Jahren entwickelten sich völlig neue Spezies, die beinahe alle heute noch existierenden Tierstämme repräsentierten. Das als kambrische Artenexplosion bekannte Evolutionsereignis ist seit langen Gegenstand wissenschaftlicher Spekulationen.

Das scheinbar plötzliche Erscheinen all dieser neuen Tiere, verwirrte bereits Charles Darwin, weshalb es auch gerne als "Darwins Dilemma" bezeichnet wird. Mittlerweile zweifeln Paläotologen daran, dass die Artenexplosion tatsächlich in dieser Form stattgefunden hat. Vielmehr dürften zumindest einige der neuen Lebensformen aus der Ediacara-Fauna hervorgegangen sein. Den plötzlichen Fossilienreichtum des Kambriums sehen die Wissenschafter als Konsequenz der Entwicklung von harten Schutzpanzern, die sich besser erhalten als die weichen Körper der Ediacara-Organismen.

Eine Rekonstruktion von Namacalathus hermanastes mit daraus emporwachsenden Tochter-Organismen: 1 – Stiel; 2 – Elterntier; 3 – Tochtertiere; 4 – mit Zilien besetzte Tentakel; 5 – Dornen; 6 – seitliche Öffnungen; 7 – zentrale Öffnung; 8, 9 und 10 – innere, mittlere und äußere Skelettschicht.
Illustr.: J. Sibbick

Spektakulärer Fund in Namibia

Ein bemerkenswert gut erhaltenes Fossil aus dem späten Ediacarium liefert nun erstmals einen handfesten Beweis dafür, dass eine direkte evolutionäre Verbindung zwischen der kambrischen Tierwelt und dem vorangegangenen fremdartigen Zeitalter existierte. Ein Team um Rachel Wood von der University of Edinburgh entdeckten die versteinerten Überreste von Namacalathus hermanastes in Namibia. Das winzige Wesen glich zu Lebzeiten vor 547 Millionen Jahren einem Nadelkissen, das auf einem kurzen Stiel sitzt.

Mithilfe einer ausgefeilten Bildgebungstechnik auf Basis von Röngenstrahlen gelang es dem Team zum ersten Mal, einige der Weichteile des Tiere, die von einem Mineral namens Pyrit perfekt konserviert wurden, dreidimensional zu rekonstruieren. Bisher hatten sich Wissenschafter nur aufgrund von Skelettresten eine Vorstellung von Namacalathus machen können.

Zu den Wurzeln der ältesten Tiere

Die im Fachjournal "Science Advances" beschriebenen Untersuchung der Weichteile und Vergleiche mit ähnlichen Tieren späterer Epochen ergab eine Überraschung: Namacalathus entpuppte sich als früher Vorfahre von Spezies, die im Verlauf der kambrischen Explosion vermeintlich erstmals auftraten. Das Wesen besaß ein gestieltes, becherförmiges, Kalkskelett, auf dem sechs radial angeordnete "Flügel" saßen. Eine große Öffnung an der Körperspitze war umgeben von mehreren Durchlässen seitlich darunter. Die Überreste weisen außerdem auf einen wahrscheinlich J-förmigen Darm hin. Aus der unterschiedlichen Pyrit-Mineralisierung schlossen die Forscher auf einen dreischichtigen Aufbau der Körperwand.

Feldarbeit in Namibia brachte erstaunliche Fossilien ans Licht.
Foto: Rachel Wood

All diese Merkmale legen nach Meinung der Wissenschafter eine nahe Verwandtschaft mit späteren Lophotrochozoen nahe, einem Überstamm von Tieren innerhalb der Stammgruppe der Urmünder, zu der wurmartige Organismen, die Weichtiere und Armfüßer gerechnet werden. Diese morphologischen Befunde stützen molekulare Analysen und weisen darauf hin, dass der Ursprung der modernen Lophotrochozoen und ihre Fähigkeit zur Biomineralisierung tief in der Ediacara-Faune wurzelt.

"Wir haben es hier mit einem außergewöhnlichen Fossil zu tun, das uns einen Einblick in die biologischen Zusammenhänge einiger der ältesten Tiere gibt", sagte Wood. "Sie helfen uns dabei, die Wurzeln der kambrischen Explosion und den Ursprung moderner Tiergruppen aufzudecken. Diese Fossilien würden vor allem auch zahlreiche neue Wege zur Erforschung des Stammbaum des Lebens eröffnen, die bisher nicht möglich gewesen seien, so die Wissenschafterin – und damit wohl auch einen wesentlichen Schritt hin zur Lösung von "Darwins Dilemma". (tberg, 16.1.2021)