Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die nächste Pandemie losgeht. Wir wissen nur nicht, wo und wie." Das sagt Syra Madad, Epidemiologin, in der 2019, vor dem Corona-Ausbruch, gedrehten sechsteiligen Netflix-Serie Pandemic: How to prevent an Outbreak. Die Wissenschafterin hat wohl damals nicht gedacht, dass es so schnell passieren würde. Heute wirken viele Szenen der Serie wie aus Nachrichtenshows der großen amerikanischen TV-Sender entnommen. Madad soll New Yorks Krankenhäuser auf einen solchen Ausbruch vorbereiten. In der ersten Folge der Serie sagt sie noch: "Solche Ausbrüche sind furchteinflößender und tödlicher als konventionelle Kriegsführung. Aber es ist etwas, was Menschen in ihrem Alltag vergessen. Mein Job ist, sie daran zu erinnern."

Im August 2020 in Kolumbien: Ein Pfleger von Corona-Patienten macht kurz Pause.
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Einen anderen Protagonisten von Pandemic erreicht der STANDARD etwa ein Jahr nach den ersten Meldungen über das Auftreten der Lungenerkrankung Covid-19: Dennis Carroll, Virologe, leitet derzeit das Global Virome Project. Sein Ziel ist, möglichst viele Viren zu sequenzieren, die eine potenzielle Gefahr darstellen könnten, eine Weltkarte zu zeichnen, die umso differenzierter und detailreicher wird, je mehr man von den "zirkulierenden Erregern" weiß. Mit diesen Daten sollte man im Fall eines Ausbruchs rasch die Basis für eine Impfstoff- und Medikamentenentwicklung haben.

Carroll spricht von mehr als 600.000 Viren mit zoonotischem Potenzial, die ähnlich wie Corona im "Reservoir" Wildtier leben und durch verschiedene Umstände und über einen Zwischenwirt wie Hausgeflügel oder das Hausschwein theoretisch auf den Menschen überspringen können. Er schätzt weiter, dass es 1,7 Millionen unterschiedliche Viren gibt, und spricht angesichts der vielen Fragezeichen in dieser Forschung von einer "dunklen Materie der Viren". Das 2018 gestartete Projekt hat 3,7 Milliarden Dollar (umgerechnet etwa drei Milliarden Euro) Budget für zehn Jahre. Vergleichsweise bescheidene Mittel, wie in einem Aufsatz des Fachmagazins Lancet Global Health 2019 detailliert aufgeschlüsselt wurde. Allein der Ebola-Ausbruch in Westafrika 2014/2015 soll 53 Milliarden Dollar zusätzliche Ausgaben in Gesundheit, Wirtschaft und Sozialem verursacht haben.

Falsche Strategie des Abwartens

Der österreichische Virologe Florian Krammer, Impfstoffexperte an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York City, schätzt die Gefahr ähnlich groß ein. "Wir müssten schon seit vielen Jahren auf mehrere Virenfamilien aufpassen. Stattdessen warten wir ab. Das ist ein Fehler, wie man jetzt sieht." Neben den Coronaviren, von denen es laut Carroll etwa 4000 potenziell gefährliche gibt, seien das vor allem die Paramyxoviren, zu denen Mumps, Masern und Nipah zählen. Letztere verursachten zuletzt Ausbrüche in Bangladesch. Das Virus wird von Flughunden auf Zwischenwirte im Nutztierbereich und danach auf Menschen übertragen.

"Wir müssen unseren Umgang mit der Umwelt nachhaltig ändern", sagt Dennis Carroll, Virologe

Der Erreger wird über Aerosole weitergegeben und kann zu tödlich verlaufenden Hirnhautentzündungen führen. Die dritte Gruppe von Viren, die eine Epidemie (begrenzter Ausbruch) oder sogar eine Pandemie (weltweiter Ausbruch) verursachen könnte, sind die Orthomyxoviren, zu denen auch die Erreger der Influenza gehören. Norbert Nowotny, Virologe an der Vetmed-Uni Wien, weist noch auf eine zusätzliche Gefahr hin. Influenzaviren hätten die Fähigkeit, ganze Teile ihres segmentierten Genoms mit anderen Influenzaviren auszutauschen. Wodurch ein neuer Erreger entstehen würde, gegen den kein Mensch geschützt ist.

Krammer, Mitglied des Corona-Fachrats im STANDARD, ist mit dem Status quo der Virusbekämpfung nicht zufrieden. Er sagt, es gebe zu wenig Geld für die strukturierte, weltweite Forschung an Erregern. "Wir müssen herausfinden, welches Virus wo zirkuliert, um Gefahren zu erkennen, zu lokalisieren und eventuell regional einzugrenzen." Der Wissenschafter regt eine internationale Forschungskooperation über Staatsgrenzen hinweg an – mit einer Größenordnung, die weit über Initiativen wie das Global Virome Project hinausgeht. Das Budget könnte von mehreren Staaten getragen werden, "ein Land wie Österreich sollte jedenfalls teilnehmen".

Kürzere Intervalle zwischen den Ausbrüchen

Krammer sagt, dass die Intervalle zwischen Ausbrüchen von neuen Infektionskrankheiten zuletzt kürzer wurden. Global-Virome-Project-Chef Dennis Carroll beschreibt die aus seiner Sicht zentralen Gründe: Die Zahl der Weltbevölkerung ist in nur kurzer Zeit explodiert. Heute liegt sie bei 7,8 Milliarden, 1900 waren es 1,6 Milliarden. Damit stieg auch die Landnutzung, Habitate von Wildtieren wurden zerstört, der Mensch macht sich die Umwelt zunutze und kommt immer häufiger mit Tieren in Berührung, deren Viren für ihn gefährlich sein könnten.

Seit vielen Jahren warnen Wissenschafter vor diesem Umstand. Im Oktober 2018 gingen Autoren um Carolien van de Sandt, Peter-Doherty-Institut für Infektionen und Immunität an der Universität von Melbourne, im Fachblatt Frontiers in Cellular and Infection Microbiology sogar so weit, vor der Gefahr einer zweiten Spanischen Grippe zu warnen. Damals starben etwa 50 Millionen Menschen an der Infektionskrankheit. Chinesische Wissenschafter zeigten 2019 im Magazin Viruses auf, wie bedrohlich die Verbindung zwischen Fledermäusen (dem wahrscheinlichen Reservoir für Sars-CoV-2) und Coronaviren sein könnte. Diese Warnungen scheinen genauso verhallt zu sein wie jene von Microsoft-Gründer Bill Gates in einem Ted-Talk 2015.

Eine Aufnahme, die 1918 in New York City gemacht wurde: Ein Postmann trägt Mund-Nasen-Schutz. Damals starben weltweit laut Schätzungen 50 Millionen Menschen.
Foto: Epa

Für Carroll gibt es nur einen Weg, um die drohende Gefahr neuer Pandemien nachhaltig abzuwenden. "Wir müssen unseren Umgang mit der Umwelt, mit der Natur nachhaltig ändern; wir müssen unseren Lebensstil anpassen." Krammer stimmt ihm zu, ist aber skeptisch, dass das funktionieren könnte. Er sieht vielmehr eine Chance in vorbereitenden kleineren Schritten: Neben einer Weltkarte aller zirkulierenden Viren wäre das für ihn auch ein globaler Masterplan zur Pandemiebekämpfung, den die meisten Staaten befolgen sollten.

Von derartigen Pandemieplänen für verschiedene Erregertypen spricht auch der Gesundheitsökonom Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS): "Da sich die Dinge sehr rasch entwickeln, benötigt man schon ex-ante Pläne, die dann umgehend umgesetzt werden können. Dazu gehört das rasche Hochfahren von Testkapazitäten, das rasche Rekrutieren von contact tracern, die gute Vernetzung mit Expertinnen und Experten und natürlich diverse non-pharmaceutical interventions (NPI), die voraussichtlich für den jeweiligen Erregertyp wirksam sind". In den ostasiatischen Staaten seien schon Einreiseverbote verhängt und tausende Tests gemacht worden, "da haben wir gerätselt, wie wir reagieren könnten".

Mehr infektionsepidemiologische Ausbildung

Um derartige Pandemiepläne zu erstellen, vor allem aber auch umzusetzen, benötige man mehr Knowhow, mehr Menschen mit infektionsepidemiologischer Ausbildung, sagt Czypionka. Der Wissenschafter fordert bessere Risikokommunikation, um die Mithilfe der Bevölkerung zu garantieren. Er sagt: "Dass wir darin schlecht sind, wird zwar seit Jahrzehnten beklagt, aber getan hat sich wenig." Für mehr Gesundheitskompetenz brauche es eine Einbindung des Bildungsministeriums.

Krammer beklagt die Kommunikation der Weltgesundheitsorganisation WHO. "Sie haben im Jänner 2020 zu vorsichtig reagiert, wollten offenkundig nicht überreagieren, um der Wirtschaft nicht zu schaden." In der Retrospektive sei es allerdings leicht, klug zu reden. "Wahrscheinlich hätte damals beschlossen werden müssen, dass die Staaten zwei Monate die Grenzen dichtmachen, vielleicht hätte es dann gar keine Pandemie gegeben." Krammer gesteht zu, dass das nicht umsetzbar gewesen wäre. Aber: Für die Zukunft brauche es eine handlungsfähige Organisation.

Schnellere Corona-Maßnahmen

Sicher ist auch eine deutlich höhere Geschwindigkeit bei den Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung notwendig. Stefan Thurner, Präsident des Complexity Science Hub (CSH) in Wien, bemängelt, dass das einzige funktionierende Tool der Lockdown sei. Das Werkzeug stamme aus dem Mittelalter, eingeführt von Papst Alexander VII., um Menschen vor der Pest zu schützen. Heute müsse es dringend um digitale Lösungen zum zeiteffizienten Tracking der Erkrankten ergänzt werden, sagt Thurner. Der Komplexitätsforscher, ebenfalls im Corona-Fachrat des STANDARD, fordert einen Digitalisierungsschub im Gesundheitswesen. Länder im asiatischen Raum würden vorexerzieren, was das für die Bekämpfung von Corona bringen kann. "Ohne Digitalisierung bringt man die dazugehörige Logistik nicht zusammen", sagt er. Und es wird weiterhin an der nötigen Geschwindigkeit fehlen.

Kommentatoren schreiben derzeit von einem Wettlauf zwischen weitaus infektiöseren Corona-Mutanten aus Großbritannien und Südafrika und dem Fortschritt bei der Durchimpfung der Bevölkerung. Einer derartigen Situation könnte man künftig gelassener entgegenblicken, wenn hinreichend breit wirkende antivirale Medikamente zur Bekämpfung der Infektion existieren würden. Das sei trotz der Vielzahl an Viren gar nicht so schwierig, wie es klingen mag, sagt Krammer. Die Enzyme einer Virenfamilie seien nämlich relativ ähnlich.

Kleineres Risiko für die Pharmabranche

Das Risiko für die Pharmabranche, keinen Absatzmarkt für ein Medikament zu finden, wäre möglicherweise minimierbar. Coronaviren sind nicht nur gefährliche Erreger mit weitreichenden Ausbrüchen – Sars-CoV (2003) und Mers-CoV (2012) –, sondern können wie Rhinoviren auch einen Schnupfen verursachen, gegen den ein derartiges antivirales Medikament auch eingesetzt werden könnte.

Der Vetmed-Experte Nowotny plädiert auch dafür, Initiativen zu setzen, um nicht nach dem Ende der Corona-Pandemie binnen kurzer Zeit wieder vor ähnlichen Problemen zu stehen. "Wir haben derzeit kein Arzneimittel, das gezielt gegen Covid-19 eingesetzt werden kann", meint er. Das Ebola-Medikament Remdesivir wirkt "nur bedingt". Die Pharmabranche müsse einen Schwerpunkt auf antivirale Medikamente legen, um gewappnet zu sein. Denn: "Wir wissen nicht, was als Nächstes kommt." Wobei Nowotny davor warnt, die Pharmazeutika-Entwicklung im Fall einer Eindämmung der Pandemie durch die zugelassenen Impfungen wieder zu stoppen.

Er wünscht sich mehr internationale Zusammenarbeit zur Vorbereitung auf eventuelle künftige Pandemien. Ein erster Schritt wäre ein Know-how-Transfer. Eine weltweite Initiative geht derzeit von der Animal Production and Health Section der Joint FAO/IAEA Division der Vereinten Nationen in Wien aus. Dabei sollen regionale Labors gestärkt werden, und zwar vor allem in Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, damit neu entstehende Infektionskrankheiten so rasch wie möglich vor Ort diagnostiziert und eingegrenzt werden können.

Offener Bericht

Die Epidemiologin Syra Madad beschäftigt sich aktuell mit dem möglichst effizienten Management der Corona-Pandemie in New York City. Sie fordert, bei Vorsichtsmaßnahmen nicht lockerzulassen, sondern im Gegenteil vermehrt auf Hygiene (Masken, Abstand, Händewaschen) und auf Forschung zu Corona-Mutationen zu setzen. Als Wissenschafterin, die täglich mit dem Virus in Berührung kommen könnte, hat sie sich bereits impfen lassen – mit dem Impfstoff von Moderna. Ein Foto davon und eine Stellungnahme hat sie wie viele andere Ärzte und Wissenschafter auf Twitter publiziert und offen über erste Nebenwirkungen berichtet: Schüttelfrost, Müdigkeit, Schmerzen an der Einstichstelle. "Es ist normal, Nebenwirkungen zu erleben, und zeigt, dass der Körper eine spürbare Immunantwort gibt." (Peter Illetschko, 16.1.2021)