Versprich es mir ist die Geschichte eines weiteren schweren Verlustes, der Joe Biden traf.

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Er stammt aus den bescheidenen Verhältnissen einer Mittelschichtfamilie im kleinen Ostküstenstaat Delaware; er ist Nachkomme irischer Einwanderer katholischen Glaubens; er hat seine erste Frau und die eineinhalb Jahre alte Tochter durch einen Autounfall verloren, die beiden Söhne überlebten verletzt; er hat sieben Enkelkinder; er war 26 Jahre Senator und acht Jahre Vizepräsident. Am 20. Jänner wird Joseph Robinette Biden Jr., genannt Joe, mit 78 Jahren als 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt.

Auf welchem Boden steht dieser Mann, was treibt ihn an, was hat ihn bewogen, in diesem Alter eine solche Bürde auf sich zu nehmen? Wer authentische Auskunft über Joe Biden bekommen will, kann bei ihm selbst nachlesen. 2017 erschien in den USA sein Buch Promise Me, Dad. A Year of Hope, Hardship and Purpose. Seit kurzem liegt die deutsche Version vor.

Szene im Wahlkampf 2012

Versprich es mir ist die Geschichte eines weiteren schweren Verlustes, der Joe Biden traf. Sein ältester Sohn Joseph Robinette III, genannt Beau ("der Schöne"), starb im Mai 2015 an einem Hirntumor, etwa ein Jahr nach der Diagnose. Beau hatte in der US-Armee im Irak und im Kosovo gedient, bevor er in die Politik einstieg. Als Generalstaatsanwalt von Delaware arbeitete er unter anderem erfolgreich für schärfere Gesetze gegen Kindesmissbrauch.

Seiner geplanten Bewerbung für den US-Senat – Vorstufe einer potenziellen späteren Präsidentschaftskandidatur – kam die Krankheit zuvor. Kurz vor seinem Tod nahm er dem Vater das Versprechen ab, den Schicksalsschlag zu verkraften, sich weiter an vorderster Stelle für das Land zu engagieren und – unausgesprochen – das Weiße Haus anzuvisieren.

So tritt also der Vater ein Erbe an, das dem Sohn bestimmt gewesen wäre. Joe Biden schildert eine regelmäßige Szene im Wahlkampf 2012, als Präsident Barack Obama und er sich um die Wiederwahl bewarben. Bevor er aufs Podium trat, habe Beau ihn am Arm genommen: "Dad. Sieh mich an. Sieh mich an, Dad. Denk dran, Dad. Homebase, Dad. Homebase."

Biden: "Was er damit sagen wollte, war Folgendes: Denk immer dran, wer du bist. Erinnere dich daran, worauf es ankommt. Bleib deinen Idealen treu. Sei mutig. Dann gab er mir immer einen Kuss und schob mich voran."

Denk daran, wer du bist

Daran erinnert sich Biden, als es um die Entscheidung geht, sich für die demokratische Präsidentschaftskandidatur 2016 zu bewerben – zu einem Zeitpunkt, als Hillary Clintons Wahlkampfmaschine bereits auf Hochtouren läuft. Obwohl Obama, mit dem ihn inzwischen eine echte Freundschaft verbindet, sich bereits für Clinton entschieden hat, will Biden noch nicht aufgeben. Er erinnert sich an das Versprechen, das er dem sterbenden Sohn gegeben hat.

Den Ausschlag für den Verzicht gibt dann ein Artikel in einem Clinton-freundlichen Medium mit dem Titel "Exklusiv: Biden selbst hat den letzten Wunsch seines sterbenden Sohnes durchsickern lassen". Dies habe seine schlimmsten Befürchtungen hinsichtlich der Methoden seiner Gegner übertroffen: "Die Vorstellung, ich würde den Tod meines Sohnes zu meinem politischen Vorteil nutzen, war abscheulich."

Politisches Credo

Das nimmt man Biden ab, angesichts der vielen zutiefst berührend geschilderten Szenen dieser familiären Tragödie. Aber es liegt in der Natur der Sache, dass der Autor eine Botschaft aussenden will. Und so liest sich das Buch, das er mit einem Ghostwriter verfasst hat, über weite Strecken wie sein politisches Credo.

Als Vizepräsident ist er im Auftrag Obamas in wichtigen außenpolitischen Missionen unterwegs – Ukraine, Irak, Mittelamerika. Ausgleich, Verständigung, Dialog, gepaart mit festen Grundsätzen: In diesem Koordinatensystem bewegt sich Biden auch innenpolitisch.

Immer wieder betont er die Bedeutung einer gut abgesicherten Mittelschicht für die wirtschaftliche und politische Stabilität des Landes; will den Einfluss des Großkapitals auf die Kandidatenkür beschränken; wendet sich gegen jegliche Diskriminierung, ob rassisch, ethnisch oder sexuell. Der Anti-Trump schlechthin, könnte man sagen, würde man ihn damit nicht unfairerweise über seinen Vorgänger definieren.

Zugleich verströmt die Biden-Story jene Duftnote des Amerikanischen, die man bei aller kritischen Distanz doch auch gerne schnuppert: Familiensinn, Zuversicht selbst in den dunkelsten Stunden, das Bewusstsein, dass man eine Mission zu erfüllen hat, welcher Art auch immer. Homebase. (Josef Kirchengast, ALBUM, 16.1.2021)