Sich lesend von zu Hause aus mit Karl-Markus Gauß auf eine "unaufhörliche Wanderung" begeben.

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Karl-Markus Gauß ist für seine Reiseerzählungen und kulturgeschichtlichen Essays bekannt; auch was er gleichsam nebenbei schreibt, und das sind nicht bloß Reflexionen und Betrachtungen fürs Feuilleton, lässt den Leser an den großen Themen teilhaben, vor allem sie sind mit ebensolcher stilistischer Perfektion verfasst und tragen alle den Anspruch in sich, einmal entsprechend gesammelt zu werden.

In einem solchen nun vorliegenden Lesebuch begegnet man Texten aus zwanzig Jahren, die allesamt so aktuell sind, dass sie die zeitlose Qualität von Gauß’ Literatur verbürgen. Und nicht nur hat der Autor eine kluge Auswahl und Anordnung getroffen, er hat auch Neues geschrieben, das sich unauffällig ins Bestehende fügt.

Neu ist zum Beispiel gleich der erste Text, eine wunderbare kleine Reiseminiatur, die von einem Sommelier im albanischen Berat erzählt – einem Sommelier, der selbst keinen Wein trinkt, ja, der noch nie Alkohol konsumiert hat, weil er Muslim ist. Schon sind wir mittendrin im bunten, komplexen Europa, dessen versteckte Seiten und unbekannte oder verzerrte Wirklichkeiten Karl-Markus Gauß mit Leidenschaft beschreibt.

Kritische Spurensuche

Ob er sich dem Stadtbild von Salzburg widmet, wo er seit 65 Jahren zu Hause ist, ob er von der tschechischen Stadt Třebíć erzählt, das heute das schönste jüdische Viertel Europas hat, aber keinen einzigen Juden mehr als Bewohner, oder ob er in Venedig Schwarz-Weiß-Aufnahmen Inge Moraths nachgeht – stets folgen wir dem Autor auf einer ebenso begeisternden wie kritischen Spurensuche, und immer wird der entdeckende Blick von der Vergangenheit her beleuchtet.

Vieles, nicht nur die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, bleibt erstaunlich aktuell, und sosehr die Globalisierung kulturelle Verluste mit sich bringt, entstehen auch neue Sprach- und Kulturlandschaften. Von Odessa weiß Gauß zu erzählen, dass die Schwarzmeerstadt einst eine spannende Vielvölkermetropole war, wo mehr als ein Dutzend verschiedener Nationalitäten lebten, bis deutsche Barbarei und Stalinismus den kulturellen Reichtum zerstörten.

Und doch ist in Odessa in den letzten Jahren eine neue Buntheit gewachsen: Man kann hier Asiaten, Araber, Schwarzafrikaner antreffen, und es gibt sogar eine kleine lateinamerikanische Gemeinde, sodass zwar heute ein gänzlich anderes kulturelles Leben hier pulsiert, die Stadt aber wieder zum vielsprachigen Zentrum geworden ist.

Truppenübungsplatz Allentsteig

Ein Gegenbeispiel in vielerlei Hinsicht: der Truppenübungsplatz Allentsteig im niederösterreichischen Waldviertel, wo 1938 auf Geheiß Hitlers 42 Ortschaften menschenleer gemacht wurden und heute nicht einmal mehr Ruinen zu sehen sind. Gauß interessiert das Verschwundene, Untergegangene.

Vor Jahren hat er die Gottschee bereist oder was einmal die Gottschee war: jener vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert deutsch besiedelte Landstrich in Slowenien, dessen Orte nach der Aussiedlung und Vertreibung ihrer Bewohner wieder von der Natur zurückerobert wurden und heute großteils Wald sind. Aber die Nachkommen der Gottscheer, die verstreut vor allem in den USA und Kanada leben, lassen ihre alte Heimat virtuell im Internet wiedererstehen.

Im Gegensatz dazu bleibt die Geschichte jener ebenso alten Waldviertler Dörfer, die dem Militär weichen mussten, für immer ausgelöscht. Was dabei wenig bekannt ist: 1945 gab es diese Dörfer noch, die Häuser und bedeutende Kulturdenkmäler wie die gotischen Kirchen von Edelbach oder Döllersheim standen alle noch.

Die österreichische Seele

Nicht die Nazis, nicht die Wehrmacht haben Häuser und Kirchen gesprengt, sondern erst das österreichische Bundesheer hat nach jahrelangem Beschuss all das dem Erdboden gleichgemacht und eine uralte Kulturlandschaft restlos zum Verschwinden gebracht. Genauer gesagt, die österreichischen Politiker seit 1945 haben es so gewollt.

Dass zur selben Zeit in Sissi-Filmen so vehement das alte Österreich beschworen wurde, hat schon wieder schizophrene Züge, ohne die die österreichische Seele offenbar nicht funktioniert. So ist das offenbar mit der Geschichte: Auch die einstige Grenzenlosigkeit, das Gemeinsame des alten Europa, das mit dem Projekt der EU wiederbelebt werden konnte, scheint nicht unbedingt zum Wunschprogramm aller Europäer zu gehören.

Wenn Gauß über die Fragwürdigkeit von Grenzen bzw. deren Unsinnigkeit reflektiert – weil sie immer eine Erfindung der politischen Zentralen und nie der Menschen sind, die an den Grenzen leben –, dann hat das jene Aktualität, mit der wir uns immer noch oder gerade wieder herumschlagen.

Beängstigende Parallelen

Es ist ein überzeugendes Argumentationsmuster, wenn Gauß das alte, bis in seine kleinsten Regionen hinein multinationale Europa in Gestalt der Habsburgermonarchie mit dem gegenwärtigen Konflikt der Migration in der EU verknüpft und dabei nichts weniger als jene Zusammenhänge sichtbar macht, die uns bis in unsere ureigene Geschichte zurück betreffen.

Die Parallelen sind beängstigend: Wo die Monarchie zuletzt nur noch von ihrer eigenen Krise am Leben gehalten wurde, agiert auch die Europäische Union bereits wie ein Krisenverband. Wie wird das dann sein mit der Diversität einer weltoffenen Gesellschaft? "Wien in fünfzig Jahren" heißt ein in die Zukunft blickender Aufsatz – und man müsste vorsichtshalber doch gleich ein Fragezeichen danach setzen!

2001 hat Gauß für den STANDARD eine "Weihnachtsgeschichte" geschrieben, die aktueller nicht sein könnte: Ein Mädchen namens Nadica erzählt von einem zwölfjährigen serbischen Roma-Mädchen, das in Salzburg ein neues Zuhause finden wollte, erstmals in eine Schule kam und dem Schicksal als Straßenkind in Serbien entronnen schien. Doch eigentlich ist es eine Geschichte "sozialer Verrohung", denn der österreichische Amtsstaat wusste mit Nadica nichts Gescheites anzufangen.

Am Ende landete das Mädchen in einer Nervenklinik, im Advent wurde sie abgeschoben, zurück in die Slums von Belgrad zu ihrem jähzornigen Vater. Dabei war Nadica sogar in Österreich geboren worden … Das ist nun fast 20 Jahre her. Wäre das nicht Stoff für ein nächstes Buch, zu recherchieren, was seither aus Nadica geworden ist?

Lesen und leben

Die "unaufhörliche Wanderung" betrifft auch uns, sie führt, ganz ohne Nostalgie, durch das alte und unser gegenwärtiges Europa, und jede Reflexion seiner Geschichte hat mit Literatur zu tun. Es ist ein Glanzpunkt dieser Sammlung, dass der vierte und letzte Abschnitt der Kultur des Lesens und Schreibens gewidmet ist. Hier bekommen wir zugleich auch ein Stück Autobiografie eines von Kindheit an begeisterten Lesers erzählt.

Als Gauß, Jahrgang 1954, zur Schule ging und anschließend Germanistik studierte, war Lesen nicht nur ein beeindruckendes Erlebnis, es bedeutete auch Renommee. Zumindest damals – welch Anreiz fürs Lesen! – konnte man mit seinen Lektüreerfahrungen Frauen beeindrucken. (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 16.1.2021)