Plötzlich auftretende Risse in der Existenz: Kyra Wilder.


Foto: Robin Farquhar-Thomson

Die Literaturgeschichte ist voll davon: beklemmenden Berichte von Frauen aus dem Leben im Puppenheim. Aus dem Gefängnis, der Gummizelle, zu der die eigenen vier Wände werden können. Eine konsequente Fortsetzung dieser Tradition ist Kyra Wilder mit Das brennende Haus gelungen, und man verrät angesichts des Titels und des verkohlten Streichholzes am Cover nicht zu viel, wenn man sagt: Es wird etwas brennen.

Dabei fängt alles so schön an. Die Ich-Erzählerin (im Klappentext wird sie Erika genannt) zieht mit ihrem Mann und den beiden kleinen Kindern – der Sohn noch ein Säugling – nach Genf. Ihr Mann hat dort eine vielversprechende Stelle bekommen, sie selbst den Job aufgegeben, um sich ganz den Kindern widmen zu können.

Schleichende Verwandlung

An dieser Stelle schnappt die Falle zu, aber es gehört zu den großen Stärken dieses Buches, dass man beim Lesen gar nicht so genau merkt, wann es eigentlich losgegangen ist – so schleichend passiert die Verwandlung der strahlenden Familienidylle in etwas Ungeheuerliches.

Zu Anfang scheint diese Familie einfach nur unerhört glücklich zu sein. Wie ein Mantra sagt die Erzählerin sich das immer wieder vor. Wie es ihr wirklich geht, ist sowieso nicht gefragt, das macht ihr spätestens während der zweiten Schwangerschaft ihr Arzt klar: Sie "müsse lächeln und fröhlich sein", wenn ihre erstgeborene Tochter in der Nähe sei. Sie ist eine Maschine geworden, eine Schauspielerin. Und vielleicht wird es ja belohnt: "Könnten wir doch so sein, wie wir auf andere Menschen wirkten."

Stattdessen bekommt die makellose Oberfläche der Vorzeigefamilie, die in strahlend weißen Kleidern in der Sonne sitzt und sich anlächelt, immer größere Risse: Der Ehemann und Vater wird langsam zum Phantom, oft zeigen nur noch zerknüllte Kleider an, dass er die Nacht im Ehebett verbracht hat – wenn er überhaupt noch heimkommt.

Angst vor dem Draußen

Die Erzählerin hat blaue Flecken, deren Herkunft sich nicht erklären lässt, die Kinder seltsame rote Male am ganzen Körper. In dem leeren Kabinett, das in den Träumen der Erzählerin zum Gästezimmer wird, mit Eiderdaunen-Decken und appetitlichem Obstschälchen, stapeln sich mittlerweile von Fliegen umschwirrte Müllsäcke. Sie zieht die Jalousien herunter, verbarrikadiert sich mit den Kindern in der Wohnung. Das Draußen macht ihr Angst. Sie spricht kein Französisch, ist völlig isoliert von der Armee von Müttern im Park, auf dem Spielplatz, auf der Straße.

"Wenn ich vormittags langsam die Straße entlangging, so wie jetzt, inmitten all der anderen Frauen mit ihren Kinderwagen, ihren eigenen Kleidersäcken für die Reinigung und Einkaufslisten in den Taschen, hätten wir alle manchmal fast Geister sein können. Wir waren blass, das auch, und wir schleppten und schoben uns weiter, aber wir waren auch wie ein Nachhall, wir konnten uns kaum daran erinnern, was früher gewesen war. Die Geister von Geschäftsfrauen oder Ärztinnen, von Verkäuferinnen oder Lehrerinnen, und allesamt Geister kleiner Mädchen."

Souverän konstruiert

Dass Frauen zu Zombies werden, hat Tradition in der Literatur von Frauen, von Bachmann bis Jelinek finden sich diese ihrer Lebendigkeit, oft auch ihrer Individualität beraubten weiblichen Untoten immer wieder. Natürlich ist da noch etwas anderes: die überwältigende Liebe der Erzählerin zu ihren Kinder, die schier unerträgliche Sorge um sie. Aber sie selbst verschwindet hinter dieser Liebe, dieser Fürsorge. Sie fühlt sich "wie der Teppich und die Flasche, und nicht wie jemand, der den Teppich und die Flasche besaß, so wie früher."

Immer wieder in den Text eingeschoben sind kursiv gesetzt Passagen, in denen eine Erzählerin spricht, die offensichtlich in einer Anstalt sitzt und höchstwahrscheinlich Erika selbst ist. Vieles bleibt rätselhaft in Das brennende Haus, aber das stört nicht, ebenso wenig wie die auf den ersten Blick etwas deplatziert erscheinenden Horrorelemente.

Im Gegenteil machen nicht zuletzt diese den Roman atmosphärisch so ungemein dicht. Sie illustrieren das Gefühl des Ausgeliefertseins, der völligen Verzweiflung und Angst, die die Erzählerin empfindet.

Kyra Wilder kochte eigentlich in einem Sterne-Restaurant in den USA, bevor sie mit ihrer Familie in die Schweiz zog. Dass der Roman ihr Debüt ist, merkt man ihm kaum an. Er ist nicht nur ungemein souverän konstruiert, sondern sprachlich eigenständig und herausragend (auch Eva Kemper trifft in der Übersetzung den richtigen Ton). Bleibt nur die Frage, wieso es im 21. Jahrhundert, in einer der reichsten Gegenden der Welt, noch immer solche Geschichten zu erzählen gibt. (Andrea Heinz, 16.1.2021)