Im Zimmer S132 sieht es aus, als wären die Vandalen gerade erst eingefallen. Immer noch, neun Tage nachdem hunderte Anhänger Donald Trumps das Parlament stürmten. Auf dem marineblauen Teppich liegt kreuz und quer jede Menge bedrucktes Papier, herausgerissen aus Aktenordnern und Schreibtischschubladen. Der Polster eines Ledersessels ist aufgeschlitzt, selbst den Schredder hat jemand durchsucht und den Inhalt auf den Boden gekippt. Eine Forensikerin in weißer Schutzkleidung ist gerade dabei, Fingerabdrücke zu sichern. Nichts darf angerührt, nichts verändert werden im Chaos von Zimmer S132. Spurensuche an einem Tatort.

Hier unten, im Parterre des Senatsgebäudes, schlugen die ersten Angreifer die Scheiben von Fenstern und Türen ein, nachdem sie auf der Westseite des Kapitols eine Mauer erklommen hatten, wie geübte Bergsteiger an einer Kletterwand. Fensterhöhlen sind mit Holz vernagelt, an einer zerbrochenen Scheibe klebt noch der Aufkleber, den die Eindringlinge dort hinterließen. "Make Liberals Cry Again!" Man möge die Liberalen – gemeint sind die Demokraten – erneut zum Weinen bringen. Eine Hommage an den Wahlkampf Donald Trumps.

Bitte nicht einheizen

Eine Etage höher steckt in der Bürotür des gerade nicht anwesenden Republikaners Mitch McConnell ein Blatt Papier. "Empfehlungen" der Capitol Police. Die am 6. Jänner überrannte, überforderte Parlamentspolizei bittet darum, an den Tagen rund um die Amtseinführung des neuen Präsidenten die Kamine nicht zu benutzen. "Ein Verzicht reduziert die Einwirkung von Rauch für die Beamten, die auf dem Dach stationiert sind." Als ob es keine anderen Sorgen gäbe.

An einem Zaun vor dem US-Kapitol erinnern Blumen an die Todesopfer, die der Parlamentssturm in der Vorwoche gefordert hat – unter ihnen auch ein Polizist.
Foto: APA / AFP / Brandan Smialowski

Die größte ist die, dass Joe Biden etwas zustoßen könnte, wenn er am 20. Jänner die Hand auf die Bibel legt, seinen Amtseid leistet und in einer Rede skizziert, was er sich für die nächsten vier Jahre im Oval Office vorgenommen hat.

Drohnen, Schützen, Sorgen

Ein Drohnenangriff, ein Scharfschütze irgendwo im Versteck, ein Mob, der noch einmal sämtliche Sperren durchbricht: An Bedrohungsszenarien mangelt es nicht. Michael Beschloss, einer der bekanntesten Historiker der USA, spezialisiert auf Präsidenten, hat Biden geraten, auf den Auftritt im Freien, an der Westseite des Kapitols, zu verzichten und sich lieber im Inneren eines streng bewachten Gebäudes in sein Amt einführen zu lassen. Nach einer Revolte, die mit Geiselnahmen und Hinrichtungen hätte enden können, sei er der Meinung, dass die Inauguration an einem rundum sicheren Ort über die Bühne gehen müsse. "Wenn das eine Höhle ist oder eine Militärbasis, soll es mir recht sein."

Barry McCaffrey, ein pensionierter Armeegeneral, gerade sehr präsent in den Medien, sieht es ähnlich. Wenn jemand behaupte, es wäre ein Zeichen von Schwäche, würde Biden die Zeremonie in geschlossene Räume verlegen, könne er nur widersprechen. "Ich habe schon viele Gefechte erlebte. Ich bin noch am Leben, weil ich sofort reagiert habe, wenn Gefahr aufzog."

Es sieht nicht danach aus, als würde der 46. Präsident der USA auf den Rat hören. Er habe keine Angst davor, sich unter freiem Himmel vereidigen zu lassen, sagt Biden. Der Satz allein macht schon deutlich, in was für einer Ausnahmesituation sich das Land befindet. Eigentlich soll der Inauguration Day ja ein Freudentag sein. Ein Tag, an dem Amerika, falls eine Partei die andere im Weißen Haus ablöst, den friedlichen Machtwechsel feiert, stolz darauf, dass dies so geordnet und selbstverständlich gelingt, dass sich andere Weltgegenden ein Beispiel daran nehmen können.

Geisterstadt

Normalerweise ist Washington nicht nur am Inauguration Day, sondern schon in den Tagen zuvor voller ausgelassener Menschen. Diesmal ist es anders. Washington, zumindest das Zentrum, gleicht einer Geisterstadt. Und Muriel Bowser, die Bürgermeisterin, fordert ihre Landsleute in Kalifornien, Texas oder Wisconsin ausdrücklich auf, der Hauptstadt fernzubleiben. Joe Biden, der in 36 Berufsjahren im Senat nahezu täglich mit der Bahn von seinem Wohnort Wilmington nach Washington und zurück fuhr, wollte auch diesmal mit dem Zug kommen. Am Mittwoch hat er den Plan aufgegeben. Sicherheitsbedenken.

So oder so, es ist die Festung Washington, in der er seinen Schwur leistet. Über 20.000 Nationalgardisten stehen nächste Woche für den Fall bereit, dass Anhänger Trumps ihr nächstes Störmanöver starten. Schon jetzt bewachen Männer im Tarnfleck die zweieinhalb Meter hohen Eisenzäune, die neuerdings einen geschlossenen Ring ums Kapitol bilden. Sie tragen Sturmgewehre und kugelsichere Westen, alle sechs, sieben Meter steht einer von ihnen an dem schwarzen Zaun. Es wirkt, als warte man auf die Offensive einer feindlichen Armee. Die Straßen rings ums Parlament sind weiträumig abgeriegelt. Überall Betonbarrieren, überall Sperrholzplatten vor Glasfronten. Innerhalb der kurzerhand abgesteckten Bannmeile herrscht eine fast gespenstische Stille, abgesehen von der einen oder anderen Polizeisirene.

Erschreckende Details

Am Mittwoch, als das Repräsentantenhaus über das Impeachment Donald Trumps abstimmte, hielten mehrere Hundert Nationalgardisten im Parlament Wache. Einige schliefen auf dem Marmorfußboden. Das letzte Mal, dass Amerikaner solche Bilder zu sehen bekamen, war 2003 nach dem Einmarsch im Irak.

Über 20.000 Nationalgardisten stehen nächste Woche für den Fall bereit, dass Anhänger Trumps ihr nächstes Störmanöver starten.
Foto: EPA/MICHAEL REYNOLDS

Es gibt Experten, die prophezeien, dass sich am Inauguration Day mit ziemlicher Sicherheit nicht wiederholt, was am 6. Jänner geschah. Nicht in Washington, im Fort Washington, wie manche die Kapitale angesichts des Riesenaufgebots an Schwerbewaffneten nennen.

Andererseits kommen mit jedem Tag neue Details über die Erstürmung des Kapitols ans Licht, und sie tragen nicht dazu bei, die Nerven zu beruhigen in einer ohnehin schon akut verunsicherten Stadt. Je mehr die Ermittler des FBI erfahren, je mehr sie an Erkenntnissen öffentlich machen, umso klarer wird, dass es eben kein spontaner Protest war – oder eben nicht nur. Es war nicht nur ein Haufen von Randalierern, der spontan losmarschierte.

Zu den Eindringlingen gehörten auch Leute, die sich gründlich vorbereitet hatten und offenbar genau wussten, was sie taten. Einige gingen so gezielt und methodisch vor, Komplizen beispielsweise mit vorher verabredeten Handzeichen Signale gebend, dass es auf militärische Erfahrung schließen lässt. Eric Munchel, ein 30-Jähriger aus Nashville, inzwischen festgenommen, hatte Kabelbinder dabei, wie sie benutzt werden, um Festgenommenen die Hände auf dem Rücken zu fesseln. Im Raum steht die Frage, ob er, unterstützt von anderen, Politiker als Geiseln nehmen wollte. Cleveland Meredith, angereist aus Colorado, schrieb in einer Textnachricht, er wolle Nancy Pelosi, der Parlamentspräsidentin, eine Kugel "in die Birne" jagen. Aus Rocky Mount, einer Kleinstadt in Virginia, fuhren zwei Polizisten nach Washington, auch sie wurden mittlerweile verhört.

Dann wäre da noch der Verdacht, dass Beamte der Capitol Police mit den Eindringlingen kooperierten. Drei wurden vom Dienst suspendiert, gegen 17 laufen Ermittlungen. Und möglicherweise waren Insider aus dem Kongress heraus daran beteiligt, den Angriff zu planen.

Angriff aus dem Inneren?

Noch ist es ein Gerücht, doch es wird immer lauter diskutiert. Zumindest einer der Anführer des Überfalls hat angegeben, sich mit drei republikanischen Abgeordneten abgesprochen zu haben. Zudem gibt es Berichte über eine gerade in Pandemiezeiten erstaunlich hohe Zahl von Besuchern, die am Tag vor der Attacke durch das Kongressgebäude geführt wurden. Die Demokratin Mikie Sherrill spricht von Erkundungstouren zur Vorbereitung des Sturms und fordert Aufklärung. Ihr Parteifreund Jamie Raskin glaubt, dass das Leben etlicher Volksvertreter am 6. Jänner am seidenen Faden hing. "Jeder von uns", sagte er am Mittwoch, "jeder, der heute in diesem Saal sitzt, hätte sterben können."

Zwischen all den Diskussionen um Sicherheit setzt Biden ein Zeichen, wie wichtig Gesundheitspolitik in seiner Amtszeit sein wird. Biden verleiht dem obersten wissenschaftlichen Berater seiner Regierung Kabinettsrang. Wie Biden am Freitag mitteilte, soll der Biologe Eric Lander das Büro für Wissenschafts- und Technologie-Politik (OSTP) im Weißen Haus leiten und die Regierung beraten. Lander ist Genetiker und hatte an der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts mitgewirkt. Zudem will Biden die Produktion von Impf-Ausrüstung per Gesetz erhöhen.

Biden setzt auf Wissenschaft

Die Wissenschaft werde in seiner Regierung immer in vorderster Reihe stehen, kündigte Biden an. Lander und sein Team von "weltberühmten Wissenschaftern" sollten dafür sorgen, "dass alles, was wir tun, auf Wissenschaft, Fakten und der Wahrheit basiert". Ihre "zuverlässige Beratung" werde von entscheidender Bedeutung sein, um die Corona-Pandemie zu beenden, die Wirtschaft wieder anzukurbeln und "die Lebensqualität aller Amerikaner zu verbessern".

Außerdem soll die Produktion von Impfstoff-Fläschchen, Spritzen, Nadeln und anderen medizinischen Ausrüstungen erhöht werden. Das sagte Bidens Übergangsteam am Freitag (Ortszeit). Ziel sei es, die Immunisierung der Amerikaner gegen das Virus zu beschleunigen. Dazu soll der sogenannte Defense Production Act genutzt werden: Das Gesetz erlaubt dem US-Präsidenten, Industriebetriebe zur Produktion bestimmter Güter zu verpflichten. (Frank Herrmann aus Washington, red, 16.1.2021)