Der 6. Jänner 2021 war in Österreich ein Feiertag. Wirklich zu feiern hatten allerdings vor allem Rechtsextreme, Verschwörungsmystiker und -mystikerinnen und Corona-Leugnende, die mit dem „Mob“ übereinstimmen, der an diesem Mittwoch das Kapitol in Washington stürmte. Die Antwort führender Politikerinnen und Politiker ließ nicht lange auf sich warten. „Let me be very clear: The scenes of chaos in the capitol do not reflect true America, do not represent who we are!“ ("Lassen Sie mich eines klarmachen: Die chaotischen Szenen im Kapitol spiegeln nicht das wahre Amerika wider, sie repräsentieren nicht, wer wir sind!) betonte der designierte US-Präsident Joe Biden in seiner Rede noch während des Geschehens. Auch zahlreiche Stimmen aus Europa zeigten sich entsetzt und machten sich für die gleiche Abgrenzung des „eigentlichen“ Amerikas von den Teilnehmenden des „Angriffs auf die US-amerikanische Demokratie“ stark: „Das ist nicht Amerika“ ertönte es von allen Seiten der EU-Politik.

Auch in Österreich

In Anbetracht der gesellschaftlichen Verschiebungen nach rechts klingen solche Aussagen nach nicht mehr als dem bloßen Schönreden hochrangiger Politikerinnen und Politiker, die machtlos mitansehen, wie anti-demokratische und menschenfeindliche Gesinnungen in der Bevölkerung immer mehr Zuspruch finden und in Taten umgesetzt werden. Antisemitismus, Rassismus und Sexismus als maßgebliche Bestandteile davon, waren schon immer Teil der Geschichte Amerikas.

Und nicht nur das: Sie sind und waren auch schon immer Teil Österreichs und Deutschlands. Jetzt nur mit dem Finger auf die schockierenden Ereignisse der US-Demokratie zu zeigen und sich im eigenen Land in Sicherheit zu wiegen, wäre ein noch festeres Zudrücken des ohnehin schon verschlossenen rechten Auges. Immerhin erinnern sich alle noch sehr gut an den erst kürzlich in Berlin versuchten Angriff auf den Reichstag. Auch hier galt der Angriff „dem Herz der Demokratie“. Auch hier wurden die Teilnehmenden als „Corona-Chaoten“ abgetan und damit eine ähnliche Abgrenzung zwischen dem wahren guten Bürgertum und den Abtrünnigen hergestellt.

In den Tagen vor und nach dem Aufschrei Amerikas gingen auch in Österreich erneut die selbsternannten „Querdenker“ zu Hunderten in mehreren Städten auf die Straße. Und sie werden mehr. Angeführt von organisierten Rechtsextremen wie den „Identitären“ und deren Tarnorganisation „die Österreicher“, wollen sie gegen die „geplante Pandemie“ und die „globale Weltverschwörung“ demonstrieren. Organisierte und bewaffnete Rechtsextreme, wie die Angreifenden des Kapitols, gibt es auch hierzulande zur Genüge. Erst kürzlich wurde in Österreich immerhin ein riesiges Waffenlager der rechtsextremen Szene ausgehoben. Ein ähnliches Szenario wie in Berlin und Washington ist folglich auch in Wien alles andere als undenkbar.

Krisen verschärfen die Situationen

Seit konservative Regierungen vermehrt damit beschäftigt sind, Migration zur “Mutter aller Probleme” zu erheben, statt sozialen Herausforderungen mit Sozialpolitik zu begegnen, werden vormals als rechtsextrem klassifizierte Äußerungen zunehmend salonfähig, auch dank der mehr oder weniger offenen Kooperation der mitte-rechts Parteien mit rechtsextremen Personen, Gruppen und Parteien. Die bloße Distanzierung einiger Spitzenpolitikerinnen und -politiker von diesen Kräften ist bei weitem nicht ausreichend, um Angriffen auf demokratische Institutionen Einhalt zu gebieten. Vielmehr verschleiert die Unterscheidung zwischen Bürgerinnen und Bürger und “verrirten Chaoten und Chaotinnen”, dass anti-demokratische Gesinnungen ein Teil Amerikas, Österreichs und Deutschlands sind. Kurzum, dass unsere Gesellschaft ein ernsthaftes Problem mit dem erneuten Aufstieg faschistischer Ideologien hat. 

Die Coronakrise, deren schwere sozialen und wirtschaftlichen Folgen erst beginnen sich abzuzeichnen, hat rechtsextreme, verschwörungsideologische und antisemitische Inhalte in großen Teilen der Bevölkerung anschlussfähiger werden lassen. Es ist also höchste Zeit, zu verstehen, unter welchen Bedingungen faschistische Bewegungen Auftrieb bekommen. In seinem bekanntesten Werk „The Great Transformation“ analysierte der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi den Aufstieg des Faschismus der Nationalsozialisten anhand der Weltwirtschaftskrise zum Ende der 1920er- und mit Verlauf der 1930er-Jahre. Darin zeigte er den Zusammenhang zwischen dem liberalen Projekt, dass sich die gezielte Schaffung globaler und selbstregulierender Märkte von staatlicher Seite zum Ziel gesetzt hatte, und dem Zusammenbruch demokratischer Gesellschaftsformen auf.

Die Konsequenz dieser Selbstregulierung freier Märkte “war ein Jahrzehnt der wirtschaftlichen Unsicherheit, das mit Depression, einer Schwächung der parlamentarischen Demokratie und einem faschistischen Rückschlag endete“, fasst es der amerikanische Journalist Robert Kuttner zusammen. Warum führte die wirtschaftliche Unsicherheit zur Schwächung der Demokratie? Die Vermarktlichung beziehungsweise Kommodifizierung immer neuer Lebensbereiche führte zu anti-liberalen Strömungen, die Schutz vor den Unberechenbarkeiten des Marktes suchten. Diese Gegenbewegungen waren jedoch nicht homogen. Roosevelts New Deal und der Sozialismus fallen genauso darunter wie Stalinismus und Faschismus. Die faschistische Lösung ist der totalitäre Nationalstaat, die erfolgreichen linken Gegenbewegungen, etwa die russischen Revolutionen von 1917, erwiesen sich als  verwundbar gegenüber totalitärem Machtstreben und blieben ebenso hinter der Utopie der befreiten Gesellschaft zurück.

Anfang Jänner stürmte ein rechter Mob das Kapitol.
Foto: AP Photo/Manuel Balce Ceneta

Keine Verharmlosung der Gefahr von rechts

Polanyis Analysen sind immer wieder aktuell, etwa zur Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 bis 2009, zum Aufstieg rechtspopulistischer und rechtsextremer Bewegungen in Europa und den USA. Und jetzt, zur Corona- und Wirtschaftskrise, die sich nochmal wesentlich stärker auf die Weltwirtschaft auswirkt, als es vor 13 Jahren der Fall war. Dass wir aus der Geschichte gelernt haben, lässt sich derzeit nicht behaupten. Freilich wird das Laissez-faire-System mittlerweile selektiver eingesetzt. In wirtschaftlich brenzligen Situationen ertönt der Ruf nach staatlichen Interventionen, die selbstverständlich temporär sein sollen. Zwar sollen die Kosten der Wirtschaftskrisen von der Gemeinschaft getragen werden, die Gewinne aber weiterhin in privater Hand bleiben, wenn die Wirtschaft wieder Fahrt aufgenommen hat. 

Schön zu sehen ist dieses Prinzip in der Regierungskommunikation während der ersten Coronawelle. Kanzler Kurz machte nach der Lockerung des ersten Lockdowns letzten Jahres schnell deutlich, dass es nun als erstes um die Rücknahme staatlicher Eingriffe in die Gestaltung der Wirtschaft gehen müsse. Schnellstmöglich sollte der kurze Auftritt des Staates auf der Bühne des Marktes wieder verschwinden und die Alternativlosigkeit des Neoliberalismus erneut betont werden, falls da mit den Staatshilfen kurz ein falscher Eindruck entstanden sein sollte. Die Hilfspakete der Regierung zu Zeiten einstürzender Aktienkurse und erschreckender Arbeitsmarktszenarien bleiben folglich auch jetzt nur temporär

Zweifelsohne ist es nicht genug auf Modernisierungs- und Wirtschaftsverlierer und -verliererinnen zu verweisen, um die Anziehungskraft rechter Kräfte in Krisenzeiten zu erklären. Rassismus, Antisemitismus und Sexismus waren schon vor dem jetzt zu beobachtenden Rechtsruck in der Mitte der Gesellschaft verwurzelt. Derart menschenverachtende Gesinnungen dürfen weder entschuldigt, noch verschleiert werden. Sie haben nur spätestens seit 2015 mit dem Aufstieg rechtspopulistischer bis rechtsextremer Bewegungen und deren Verschiebung des Sagbaren nach rechts ein neues Sprachrohr erhalten. Polanyi hilft zu verstehen, wie der Raum für diese Akteure und Akteurinnen vergrößert werden konnte. Er wurde auch durch die zunehmende soziale Unsicherheit und Betonung der Selbstverantwortung des Einzelnen im Zuge neoliberaler Marktsteuerung und absoluter Wettbewerbslogik geöffnet.

Die Aktualität von Polanyis Analysen sollten uns daran erinnern, dass die Verharmlosung der Gefahr von rechts bei gleichzeitigem Festhalten an einem entfesselten Marktsystem nicht mehr lange standhält. Gehen wir die demokratische Regulierung lebenswichtiger Bereiche gesellschaftlichen Zusammenlebens endlich an. Damit soll die von sozialdemokratischen Parteien propagierte soziale Marktwirtschaft in keinster Weise als der Weisheit letzter Schluss aufgezeigt werden. Auch Polanyi sah die Einbettung des Marktes durch staatliche Regulation nur als Übergang in eine demokratische Gesellschaft jenseits ständiger Ein- und Entbettung des Marktes, die ihre Wirtschaft letztlich zugunsten der Bedürfnisse und der Freiheit der Menschen organisiert. Als eine solche Übergangslösung zu einem guten Leben für alle hat sich die Sozialdemokratie aber leider historisch als wenig geeignet erwiesen.

Entschiedene Bekämpfung

Der Sturm auf das Kapitol macht deutlich, dass westliche Gesellschaften wieder an einem Punkt stehen, in dem sich Gegenbewegungen zur immer weiteren Entbettung, zur ungebrochenen Machtverlagerung von Politik zu Märkten formieren. Davon zeugen die Faschisten und Faschistinnen im Kapitol genauso wie die Aktivistinnen und Aktivisten von Ende Gelände, die für eine klimagerechte Zukunft Kohleinfrastruktur blockieren und damit deutlich machen, dass nicht Marktlogiken über den Umgang mit dem Klimawandel entscheiden dürfen. Der entscheidende Unterschied ist die Gesellschaftsordnung, die den jeweiligen Gruppen vorschwebt. Die einen wollen einen totalitären Staat mit starkem Führer, die anderen eine Ausweitung der Demokratie, um eine sozial und ökologisch gerechte Zukunft überhaupt erreichen zu können. Die Forderung ist berechtigt, denn gegenwärtige Klimapolitik orientiert sich an der Marktlogik. Die Politiken mit der breitesten Unterstützung fußen auf der Bepreisung von Treibhausgasen: In Form von CO2-Steuer, Handel mit Emissionszertifikaten und Kompensationszahlungen für CO2-Ausstoß, etwa um den Flug in die USA für 35 Euro “klimaneutral” zu machen.

Wenn die Regeln richtig formuliert werden, so der Tenor, dann regelt der Markt die Klimakrise. Allein, diese weitere Vermarktlichung der größten gesellschaftlichen Herausforderung des kommenden Jahrhunderts ist geeignet, Gegenbewegungen hervorzubringen, deren Aktionen den Sturm auf das Kapitol wie einen Kindergeburtstag aussehen lassen. Es ist nicht im Interesse einer demokratischen Gesellschaft, es so weit kommen zu lassen. Wir brauchen also eine Doppelstrategie: Entschiedene Bekämpfung faschistischer Bewegungen, die sich bereits Bahn brechen, und die Wiedereinbettung der großen gesellschaftlichen Fragen in die politische Arena, um Zukünftige gar nicht erst erstarken zu lassen. (Karoline Kalke, Katharina Keil, 19.1.2021)

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