Spätestens nach dem dritten Lockdown hat man sich nichts mehr zu sagen.

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Meine Freundin N. ist am Ende ihrer Kräfte. "Sosehr ich mich auch anstrenge und darüber nachdenke: Wir haben kein einziges gemeinsames Hobby!", schreit sie über den Parkplatz eines Einkaufsmarktes in meine Richtung. "In Großbuchstaben: KEINES!" Er gehe gerne eisfischen, sie jazztanzen. Er sammle Zinnsoldaten, sie Sixties-Aschenbecher.

Das sieht nicht gut aus, denke ich im Stillen. Andererseits: Bei welchen Langzeitpaaren in meinem Bekanntenkreis sieht es denn jetzt noch gut aus? All die Glückspilze, die ich seit Jahren um ihre tollen Ehen, aufregenden Beziehungen und ihr nettes Familienleben beneide? Egal, mit wem man telefoniert: Ständig ist man kurz davor, auf einem Zweitapparat 133 zu wählen, um einen Mord zu verhindern.

"Ich träume nur mehr von einem Zeugenschutzprogramm. Der Chance, auf einem anderen Kontinent allein und ganz neu anzufangen", gesteht Freund M., seit zwanzig Jahren verheiratet und Vater von renitenten Teenager-Zwillingen.

Flucht von Alcatraz

Wen wundert’s? Eine Erlebnisgesellschaft, die von einem Tag auf den anderen nichts mehr erlebt — kein Theater, kein Kino, keine Barbesuche. In diesem Virenschutz-Gefängnis kann man dem anderen noch so oft das Frühstück ans Bett servieren. Da hat man sich spätestens nach dem dritten Lockdown nichts mehr zu sagen. In Großbuchstaben: NICHTS. Und Sex, was war das noch gleich?

Nicht, dass es um uns Alleinlebende so viel besser bestellt wäre. "Nach gefühlten achthundert Videoabenden bin ich durch mit mir. Da gibt es nichts mehr zu entdecken", bekenne ich gegenüber Paar-Verzweifelten freimütig. "Wenn ich könnte, würde ich jetzt mit mir selbst Schluss machen."

Bettgeflüster

Mangels anderer Lichtblicke fangen sehr konservative, sehr verheiratete Bekannte von mir plötzlich zu kiffen an. Andere schleichen sich verdächtig oft aus der Wohnung und in nahegelegene Parks ("Der Take-away-Espresso von diesem Kaffeewagen ist so gut").

Höchste Zeit, die positiven Seiten des Wahnsinns zu sehen. Jeder – wirklich jeder – weiß, dass seine aktuellen Beziehungsprobleme nichts mit ihm zu tun haben. Wenn ER seinen Liebsten im Badezimmer anbrüllt: Dumm gelaufen, doch schuld ist natürlich die blöde Pandemie. Wenn SIE vor versammelter Mannschaft die Rindsschnitzel an die Wand schmeißt: Unpraktisch, aber sie ist nicht allein – inzwischen ist das Nervenkostüm bei allen Menschen dünn wie ein Ballett-Tütü.

Kategorischer Imperativ

Da pfeift man auf die Metaphysik der guten Sitten. Biegt sich, frei nach Kant, die Moral im Sinne des größeren Ganzen zurecht. "Ich trainiere seit neuestem vier Mal die Woche. Wenn es endlich wieder losgeht, will ich schön und fit sein", erklärt etwa meine Nachbarin. Die Gute hat vor, als große Krisengewinnerin aus der Sache hervorzugehen: "Glaube mir, die Leute sind so was von fällig. Sobald großflächig durchgeimpft wurde, kann man ganz groß abkassieren." (Ela Angerer, RONDO, 3.2.2021)