Die USA als Nation der Einheit – das war einmal. Joe Biden will aber zumindest daran arbeiten.
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Neulich sprach Joe Biden davon, dass sein Land an diesem 20. Jänner die vielleicht ungewöhnlichste Angelobungsfeier seiner Geschichte erlebe. Es war eine Anspielung auf das Heerlager Washington – auf eine Stadt, in deren Zentrum am Mittwoch deutlich mehr Nationalgardisten mit Sturmgewehren an Metallzäunen Wache stehen, als geladene Gäste an der Amtseinführung des neuen Präsidenten und der neuen Vizepräsidentin teilnehmen. Eine Anspielung auf die zu erwartende Tristesse auf der Mall, der Prachtmeile zwischen Kapitol und Lincoln Memorial, wo vor zwölf Jahren 1,8 Millionen ausgelassene Menschen dem Hoffnungsträger Barack Obama zujubelten – und wo diesmal bedrückende Leere herrschen wird.

Kaum hatte er das Offensichtliche, das Deprimierende beschrieben, schlug Biden aber einen ausgesprochen optimistischen Ton an: Er glaube, dass der Sturm vom 6. Jänner auf das Kapitol seinen Job einfacher machen werde. Einige Republikaner hätten sich endlich von Donald Trump gelöst – das werde ihm zweifellos helfen. "Zusammen müssen wir dieses Land einen!"

Der gemeinsame Nenner

Wunden heilen, Gräben zuschütten, den kleinsten gemeinsamen Nenner finden – das war schon im Wahlkampf sein Leitmotiv. Als feststand, dass er gewonnen hatte, hielt Biden eine markant versöhnliche Rede. "Um voranzukommen, müssen wir aufhören, unsere Gegner wie Feinde zu behandeln", warb er für zivilisierte Auseinandersetzung anstelle der giftigen Polemik der Trump-Jahre.

Seine Rede zum Amtsantritt heute, Mittwoch, so haben es Berater angekündigt, soll denn nicht zuletzt auch ein Appell an diejenigen sein, die ihn nicht gewählt haben. Ein erster Versuch, der Polarisierung die Spitze zu nehmen. Die Demokratin Stephanie Cutter, mit der Inszenierung der Zeremonie betraut, spricht von der Chance, nach einem "dunklen Kapitel unserer Chronik" ein neues aufzuschlagen. Angesichts der Schockwirkung der Szenen im Kapitol, glaubt sie, gebe es in den Reihen der Republikaner eine viel größere Bereitschaft, den Reset-Knopf zu drücken, neu anzufangen und die Normen der Demokratie zu verteidigen.

Die zuversichtlichen Töne ändern nichts daran, dass Biden in einem Moment im Weißen Haus einzieht, in dem die Republik eine der tiefsten Talsohlen seit ihrer Gründung durchläuft. Geschichtskundige vergleichen die Lage mit dem Jahr 1861, als Abraham Lincoln vereidigt wurde, kurz bevor der Bürgerkrieg begann. Oder mit dem März 1933, als Franklin Delano Roosevelt mitten in der Großen Depression Aufbruchsstimmung zu verbreiten versuchte.

Vierfache Krise

Der neue Präsident habe es nicht nur mit einer Pandemie und einer Wirtschaftskrise zu tun, sondern dazu noch mit einer politischen und einer kulturellen Krise, fasst es der Historiker Jon Meacham zusammen. Robert Reich, in den 1990er-Jahren Arbeitsminister im Kabinett Bill Clintons, heute Politikprofessor an der Universität Berkeley, vergleicht die Aufgabe mit einer Autoreparatur in voller Fahrt. "Biden und seine Mannschaft müssen die Reifen des Autos wechseln, während es auf einem Highway dahinrast, und zwar alle vier Reifen gleichzeitig."

Nach einer Umfrage der Quinnipiac University sieht eine Mehrheit der Amerikaner den Versöhnungsversuch eher skeptisch. 56 Prozent glauben nicht, dass es Biden gelingen wird, die politische Spaltung zu überwinden. Jeder Dritte hält ihn, dem Märchen Trumps vom massiven Wahlbetrug folgend, für einen illegitimen Präsidenten.

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Joe Biden, 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, weiß: Er wird nicht an versöhnlichen Worten gemessen werden, sondern an konkreten Ergebnissen.
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Es ist eine Momentaufnahme, die nach Bidens Überzeugung irgendwann in den nächsten Monaten durch positivere Stimmungsbilder ersetzt wird. Und es ist nicht die eine aufrüttelnde Rede, von der er sich eine Wende erhofft – oder zumindest den Beginn einer Wende. Er will durch Taten überzeugen, durch das beharrliche Bohren dicker Bretter. Rhetorisch stand er bisher ohnehin nur für solides Mittelmaß – weit davon entfernt, sich mit Ausnahmetalenten wie Barack Obama messen zu können. Als Praktiker dagegen verfügt er über einen Erfahrungsschatz wie kaum ein anderer. Seine Stärke ist es, persönliche Kontakte zu knüpfen und zu pflegen; auch mit dem politischen Gegner, auch in Phasen, in denen auf der Washingtoner Bühne besonders heftig gerangelt wird.

Zusammenarbeit mit allen

Als Obama, vom Typ her eher professoral, im Dauerkonflikt um Budget und Staatsschulden, Kompromisse mit den Republikanern auszuloten hatte, war es in aller Regel sein Stellvertreter Biden, der die Verhandlungen führte. Zu Beginn des Vorwahlkampfs der Demokraten rühmte sich dieser Profi der Politik, der 36 Jahre im Senat verbrachte, der Tatsache, dass er schon als junger Mann – trotz großer inhaltlicher Differenzen – mit jedem in der Kammer kooperieren konnte. Als Beispiele nannte er ausgerechnet James Eastland und Herman Talmadge, Parteifreunde aus Mississippi und Georgia, die noch in den 1970ern für die Rassentrennung eintraten. Kamala Harris hat ihn 2019 während einer Fernsehdebatte daran erinnert, verbunden mit scharfer Kritik. Es hinderte Biden nicht daran, ihr die Kandidatur für die Vizepräsidentschaft anzutragen. Der Mann, sagt Chris Coons, Senator aus Delaware, trage nichts nach. Er sei zu sehr Menschenfreund, als dass er ewigen Groll hegen könnte.

Politiker aus der ganzen Welt signalisierten im Vorfeld von Bidens Angelobung Dialogbereitschaft. Unter anderem sprach EU-Ratspräsident Charles Michel am Mittwoch im Europaparlament von einem "neuen Gründungspakt" für die gemeinsame Zusammenarbeit mit den USA. Er solle beide Seiten "stärker" und die Welt "besser" machen.

Fingerspitzengefühl

Ein Fingerspitzenpolitiker, so charakterisiert Biden sich gern selbst. Es soll bedeuten, dass er versucht, sich in die Lage des jeweils anderen hineinzufühlen. Dies hat er in letzter Zeit oft wiederholt, allein schon, um den Republikanern Dialogbereitschaft zu signalisieren. Allerdings gibt es alte Freunde, die davor warnen, es zu übertreiben mit den Gesprächsangeboten. Schon Obama hatte anfangs auf Kooperation gesetzt, in der Hoffnung, dass die Opposition nach der Finanzkrise, in der schwersten Rezession seit den 1930er-Jahren, sachlich mit ihm zusammenarbeiten werde. Im Rückblick wirkt es naiv, hatte es Mitch McConnell, im Parlament schon damals die Nummer eins der Konservativen, doch zur wichtigsten Aufgabe erklärt, den Präsidenten Obama nach nur einer Amtszeit im Weißen Haus abzulösen.

Zu denen, die Biden davor warnen, sich allzu sehr auf den guten Willen der Gegenpartei zu verlassen, gehört James Clyburn, der prominenteste Afroamerikaner im Repräsentantenhaus. Biden wolle parteiübergreifend regieren, was gewiss eine noble Absicht sei, sagt der Veteran aus South Carolina. "Aber er darf nicht zulassen, dass seine Programme gekapert und verhindert werden von Leuten, die eine ganz andere Agenda haben."

An Taten messen

Dass eine eventuelle Abkehr der Republikaner von Trump nicht das Verschwinden inhaltlicher Kontroversen bedeutet, hat Mitt Romney deutlich gemacht, einer, der früh auf Distanz zu Trump ging. Sollte Biden "extrem progressive" Gesetze einbringen, müsse er mit härtestem Widerstand rechnen, skizziert der Senator aus Utah die Konfliktlinien.

Biden wiederum weiß, dass er nicht an versöhnlichen Worten gemessen wird, sondern an konkreten Ergebnissen. An einem durchschnittlichen Tag im Jänner sterben 3300 Amerikaner, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben. Das Impfen läuft schleppend an. Nachdem Trump zuletzt nur noch mit sich selbst beschäftigt war, hat sein Nachfolger versprochen, Dampf zu machen. In seinen ersten 100 Tagen im Amt, hat er angekündigt, sollen 100 Millionen Menschen eine Impfung erhalten. Zudem will er ein 1,9 Billionen Dollar schweres Hilfspaket durchsetzen, um sowohl die Epidemie zu bekämpfen als auch der Wirtschaft dringend benötigte Wachstumsimpulse zu geben. Statt zu reden, wolle man handeln, sagt sein Stabschef Ron Klain. "Die Botschaft ist: Wir werden die Dinge erledigen." (Frank Herrmann aus Washington, 20.1.2021)