Heilung – kaum ein anderer Begriff entspricht im liberalen Amerika dieser Tage so sehr dem Zeitgeist. Da entdecken gestresste Homeoffice-Angestellte die heilende Kraft des Zoom-Yoga; geplagte Eltern ordern in ihrer Verzweiflung kostspielige Turnmatten ins Haus, um ihre verkrümmten Rücken zu heilen; mannigfaltige Teesorten versprechen in der Reklame "healing" für die von Pandemie, Zukunftsangst und Donald Trump gebeutelte Seele.

Aus dem einst nach Esoterik und Räucherstäbchen miefenden Versprechen der Heilung ist inmitten der großen Krise ein unschlagbares Verkaufsargument geworden. Was heilt, verkauft sich gut. Auch in der Politik.

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Joe Biden wird am Mittwoch als US-Präsident angelobt.
Foto: AP/Andrew Harnik

Für Joe Biden, jenen mitunter dröge wirkenden 78-Jährigen, der am Mittwoch, als 46. US-Präsident angelobt wird, kam die neue Sehnsucht vieler liberaler Amerikaner nach Heilung genau zur richtigen Zeit. Dankbar übernahm er in seinem – großteils vom heimatlichen Keller aus geführten – Wahlkampf die Botschaft und machte so seine größte Schwäche über Nacht zu seiner größten Stärke: Biden mag zwar ein etwas langweiliger alter Mann sein, aber immerhin ist er ein berechenbarer Politiker, der eine verunsicherte Nation zu heilen vermag. Das suggerierte sein PR-Team. Anstelle von Hoffnung, wie bei Barack Obama 2008, war es 2020 das Versprechen der Heilung, das bei den Menschen verfing. Dass sich die Mehrheit nach vier Jahren Donald Trump nichts sehnlicher wünscht als ein bisschen Ruhe, ist verständlich. Und Biden, der wie kein anderer für den politischen Kompromiss steht, scheint wie gemacht dafür.

Gratwanderung

Und doch muss ihm nun eine Gratwanderung gelingen. Denn ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung zwischen Florida und Alaska wünscht sich gar keine Heilung, will bloß keinen Wandel und hofft auch nicht auf Versöhnung. Für 74 Millionen Wählerinnen und Wähler war das, was Trump nun vier Jahre lang getrieben hat, so recht und billig, dass sie ihn gerne für weitere vier im Weißen Haus gesehen hätten. Der Präsident, der Kinder an der Grenze zu Mexiko in Käfige sperren ließ und die Pandemie kleinredete und für den die Neonazis von Charlottesville "very fine people" waren, ist für sie nicht der Teufel, den Liberale und große Teile Europas in ihm sehen. Für sie ist die Heilung, die Joe Biden dem Land verordnet, schlimmer als die Krankheit selbst. Trump erscheint ihnen, trotz aller Nebenwirkungen, wohl eher als Medizin denn als Symptom. Diese Menschen davon zu überzeugen, dass sich Demokratie auch für sie langfristig lohnt, wäre Bidens Meisterstück.

Bevor sich der neue US-Präsident nun daranmachen kann, die Spaltung zu überwinden, müssen sich die USA aber ihren Dämonen stellen. Ein Weitermachen, als sei nichts geschehen, ist nach den Ereignissen im Kapitol am 6. Jänner schwer vorstellbar. Die Wunde, die dort so brutal geschlagen wurde, kann schließlich erst dann zu heilen beginnen, wenn Trump für seine aufrührerische Hetze ein für alle Mal von allen politischen Ämtern ferngehalten wird und die Rädelsführer des Putschversuchs hart bestraft sind. Das ist Amerika nicht zuletzt jenen Polizeibeamten schuldig, die in der blinden Wut der Aufständischen ihr Leben verloren haben.

Versäumt Biden jetzt eine ernsthafte – politische wie juristische – Abrechnung mit dem Trumpismus, droht den USA anstatt Heilung der Wundbrand. (Florian Niederndorfer, 20.1.2021)