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Kamala Harris wurde als erste Frau US-Vizepräsidentin.

Foto: Reuters / Becker

Fünf Tage vor ihrer Amtseinführung wurde Kamala Harris von einem Journalisten des US-Radiosenders NPR gefragt, was ihr wohl durch den Kopf gehen werde, wenn sie auf den Stufen des Kapitols ihren Schwur leiste. "Ich werde an meine Mutter denken", antwortete die angehende Vizepräsidentin. "An meine Mutter, die mir vom Himmel aus zuschauen wird." In einem anderen Interview zitierte sie, nicht zum ersten Mal, was ihr die Mutter einst mit auf den Weg gab. "Kamala, in vielen Dingen wirst du vielleicht die Erste sein, die etwas Bestimmtes tun kann. Sorge auf jeden Fall dafür, dass du nie die Letzte sein wirst."

In den USA gehört es zum guten Ton, dass Politiker, wenn sie ein hohes Amt antreten, immer auch in von ihren Eltern reden. Von deren Anteil am eigenen Erfolg. Von Werten, die einem vermittelt wurden. Von Opfern, die gebracht wurden.

Aber selten hat jemand so ausführlich, so eindrücklich über die Rolle der eigenen Mutter gesprochen, wie Harris es seit Wochen tut. Was auch damit zu tun hat, dass die Demokratin aus Kalifornien stellvertretend für jenen weltoffenen Teil Amerikas steht, den Donald Trump immer als etwas Fremdes, Naives, Unpatriotisches hinzustellen versucht. Und damit, dass die Geschichte ihrer Mutter eine Migrantengeschichte ist, vielleicht nicht die klassische, wohl aber eine sehr erfolgreiche.

Vorzeigebiografie

Shyamala Gopalan wurde in Indien geboren, bevor sie im Alter von 19 Jahren zum Studium in die USA kam. Als Tochter eines hohen Beamten war sie privilegiert, und zugleich war sie so neugierig, dass sie lieber an eine amerikanische Uni ging als an eine britische, was der traditionelle Weg für die Kinder privilegierter indischer Familien gewesen wäre. An der Universität Berkeley lernte sie Donald J. Harris kennen, einen Ökonomiestudenten aus Jamaika. Später, von Harris geschieden, zog sie mit ihren Töchtern Kamala und Maya nach Montreal, um dort zu lehren.

Gopalan, eine auf Brustkrebs spezialisierte Ärztin und Forscherin, starb im Jahr 2009. In ihrem Leben, so Harris, habe es "keine größere Inspiration" gegeben als ihre Mutter. Man könne nicht wissen, wer Kamala Harris sei, wenn man nicht wisse, wer Shyamala Gopalan sei, fasst es ihre Schwester zusammen.

Vergleiche mit Obama

Vielleicht liegt es an ihrer Biografie, dass sie immer wieder mit Barack Obama verglichen wird. Dem Sohn einer weißen Mutter aus Kansas und eines schwarzen Vaters aus Kenia, der das eigene Land immer auch mit den Augen eines kritischen Beobachters sehen konnte. Letzteres sagt man auch über Harris. Für die USA ist die Welterfahrung der 56-Jährigen keineswegs selbstverständlich – manchmal wird die eigene Ignoranz sogar als Ausdruck besonderer Vaterlandsliebe gefeiert. Vielleicht liegt es auch daran, dass Harris, die in der politischen Mitte zu Hause ist, von Anhängern Trumps derart angefeindet, zur Kommunistin gestempelt, als eine Fremde charakterisiert wurde.

Man könne Menschen nicht in Schubladen sortieren, sagte Harris, als sie skizzierte, mit welcher Leitmelodie sie in den Wahlkampf 2020 zu ziehen gedachte. Niemand lebe ein Leben, in dem sich alles nur um ein Thema drehe, "das man allein durch die Linse eines einzigen Themas betrachten kann". Was die Leute wollten, seien Politiker, die der Komplexität jedes einzelnen Lebens gerecht würden.

Es war ihre Antwort auf die Schwarzweißbilder, die Stereotypen, die groben Vereinfachungen der Trumpisten. Das mit den Premieren, die ihre Mutter prophezeit hatte, ist seit Mittwoch um ein Kapitel reicher. Dr. Gopalans Tochter ist nicht nur die erste Frau im Vizepräsidentenamt, sie ist in dem Amt auch die erste Frau mit afroamerikanisch-karibischen und südasiatischen Wurzeln. (Frank Herrmann aus Washington, 20.1.2021)