Angela Merkel droht mit Grenzkontrollen, wenn sich die EU-Staaten nicht einem strikten Einreiseregime unterziehen.

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Deutschland fordert die EU-Partnerstaaten zu einem strikten gemeinsamen Vorgehen auf, um die Ausbreitung von mutierten Typen des Coronavirus, wie sie in Brasilien und Großbritannien bekannt wurden, auf das Gebiet der Europäischen Union zu stoppen. Nur wenn das in einer "koordinierten Aktion" geschehe, könne das Virus effektiv eingehegt und der freie Personenverkehr in einem Europa der offenen Grenzen gesichert werden. Es sei "dringend nötig", entsprechende Maßnahmen zu treffen.

Das geht aus einem dem STANDARD vorliegenden Strategiepapier aus Berlin hervor, das die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bei dem am Donnerstagabend per Videokonferenz stattfindenden EU-Gipfel mit Nachdruck vertreten wird. Sie machte nach der jüngsten Ministerpräsidentenkonferenz deutlich, dass Deutschland sonst, wie schon im vergangenen Frühjahr, seine Grenzen für die Nachbarländer schließen und strenge Grenzkontrollen einführen könnte. "Wenn Länder ganz andere Wege gehen sollten, was ich im Augenblick nicht sehe, aber das kann auch sein, dann muss man zum Äußersten bereit sein und sagen: Dann müssen wir auch wieder Grenzkontrollen einführen", erklärte die Kanzlerin. Ein Wink mit dem Zaunpfahl.

Gemeinsames Interesse mit Nachbarstaaten

Auch in Berlin, bei einer überraschend einberufenen Pressekonferenz, erklärte sie: "Heute werden wir zum allerersten Mal mit den europäischen Staats- und Regierungschefs über die Mutation sprechen." Sie alle hätten ein gemeinsames Interesse, die Verbreitung des mutierten Virus einzudämmen, die Sieben-Tage-Inzidenz müsse gesenkt werden. "Wenn ich mir unsere Nachbarschaft anschaue, habe ich da wenig Bedenken", betonte Merkel, erwähnte aber, dass man mit der Schweiz und Tschechien sprechen müsse.

Epidemiologisch sei Europa "ein Gebiet". Deutschland wolle einen kooperativen Ansatz, der freie Warenverkehr stehe "überhaupt nicht zur Debatte". Aber, so Merkel: "Wenn ein Land mit einer doppelt so hohen Inzidenz wie in Deutschland die Geschäfte aufmacht, dann ist das ein Problem." Denn sie fordere von den "Bürgerinnen und Bürgern Deutschlands viel". Dann seien Grenzkontrollen eben die "Ultima Ratio". Man werde alles tun, um dies zu verhindern, "aber sie können nicht ausgeschlossen werden". Abschließende Ergebnisse erwartet sie von dem Gipfel am Donnerstag nicht.

Einheitliche Regeln bei Einreise

Die deutsche Strategie sieht vor, dass alle EU-Staaten – auch die Nicht-EU-Mitglieder im Schengenraum wie die Schweiz, Norwegen oder Lichtenstein – beim Einreiseregime gegenüber Drittstaaten deckungsgleich vorgehen. Alle Reisenden, die zehn Tage vor der Einreise in die EU in einem Land mit der Virusvariante B.1.1.7 oder in Brasilien verbracht haben, müssten verpflichtend einen Test machen und dann in Quarantäne bleiben. Fluglinien müssten verpflichtet werden, dass Passagiere maximal 48 Stunden vor dem Einchecken einen Test machen, der negativ ausgehe, sonst sei die Flugreise zu verweigern. Ausnahmen von der Quarantäneverpflichtung – etwa für Durchreisende oder im Güterverkehr – müssten sehr eng gehalten werden.

Die deutsche Regierung betont, dass die EU-Kommission keine Möglichkeit habe, das durchzusetzen. Also müssten sich die Staaten freiwillig einem strikten Regime unterziehen. Jedes Mitgliedsland habe aber selbstverständlich die Möglichkeit, über diese Mindestanforderungen hinaus strengere Maßnahmen zu setzen, wie das im Frühjahr 2020 bereits der Fall war. Zeitlich begrenzte Reisebeschränkungen könne es auch für EU-Bürger und Menschen mit Aufenthaltsrecht im EU-Raum geben. Als Basis dafür sollten in der Regel die Daten der gemeinsamen Gesundheitsbehörde ECDC gelten.

Merkels Erklärungsbedarf

Dass Merkel in Berlin sich den Fragen der Presse stellte, war überraschend. Derlei tut sie sonst nur einmal im Jahr, nämlich im Sommer. Doch offensichtlich hatte sie das Bedürfnis, ihre politischen Maßnahmen im Kampf gegen Corona näher zu erklären. "Wir befinden uns in einer sehr schwierigen Phase der Pandemie", sagte sie. Einerseits gingen die täglichen Neuinfektionen endlich zurück, auch auf den Intensivstationen lägen weniger Patientinnen und Patienten. Es zeige sich, dass die "harten Einschnitte sich auszuzahlen beginnen". Andererseits gebe es immer noch erschreckend hohe Todeszahlen. Merkel: "Das ist furchtbar, das sind nicht einfach Zahlen, das sind Menschen, die in Einsamkeit gestorben sind." Wörtlich sagte sie: "Mir bricht es das Herz."

Auf die Frage, ob Deutschland in der Pandemiebekämpfung besser dastehen würde, wenn alle Ministerpräsidenten der Länder, mit denen sich Merkel regelmäßig abspricht, ihrer harten Linie gefolgt wären, sagte sie: "Wir haben vieles abzuwägen, ich schätze diese Zusammenarbeit, auch wenn sie manchmal mühselig ist." (Thomas Mayer, Birgit Baumann aus Berlin, 21.1.2021)