Nicht nur für Amanda Gormans Poesie steht die schwarze Bürgerrechtlerin Maya Angelou Pate: Gorman trug bei ihrem Auftritt Schmuck der 2014 verstorbenen Autorin. Oprah Winfrey hat ihn ihr gegeben.

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Die USA haben nicht nur einen neuen Präsidenten und eine neue First Lady, sondern auch eine neue "erste Dichterin": Die 22-jährige Amanda Gorman begeisterte bei der Inaugurationsfeier von Joe Biden die anwesenden Gäste, Kommentatoren und soziale Netze mit dem Gedicht The Hill We Climb (Der Berg, den wir erklimmen).

Darin erinnert Gorman an die Geschichte der Sklaverei, spricht aktuelle Probleme der so stolzen Nation an und entwirft eine hoffnungsvolle Zukunft: "Mit jedem Atemzug meiner bronzefarbenen Brust, werden wir diese verwundete Welt zu einer wunderbaren machen."

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Im New Yorker fühlte sich die Journalistin Masha Gessen von dieser Idee der noch nicht erreichten, aber angestrebten Demokratie umgehend an die Tradition amerikanischer politischer Reden (Martin Luther Kings I Have a Dream) sowie an Gedichte wie Langston Hughes Let America Be America Again erinnert.

Reiche Tradition

Fragt man Gorman, nennt sie zudem Toni Morrison, Audre Lorde oder Sonia Sanchez als Vorbilder. Als Hommage an die Autorin und Bürgerrechtlerin Maya Angelou trug Gorman beim Auftritt Schmuck, der auf deren Memoiren Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt anspielte. Gorman steht mit ihren Gedichten über Unterdrückung, Feminismus und Rasse aber auch in einer Tradition schwarzer politischer Lyrik, deren Akteure sie oft mit Musik engführten. Ab den 1990ern verband Ursula Rucker sie mit Rap, ab den 70ern die Gruppe The Last Poets. Aus der Zeit stammt auch The Revolution Will Not Be Televised, ein Gedicht und Lied von Gil Scott-Heron. Es appellierte an Schwarze, die von Weißen dominierte Glotze abzuschalten und aktiv zu werden.

Zwei Verweise brachte Gorman auf das Empowerment-Musical Hamilton (2015) unter. Dass Widerstandslyrik im Hip-Hop und Rap von schwarzen Künstlern wie Kendrick Lamar bis heute stark präsent ist, ist nachvollziehbar.

Zeiten der Krise

Denn ihre Hochzeit hat sie immer in Zeiten der Krise. So ist es auch ein Gründungsinitial der europäischen Lyrik nach 1945, sich politisch zu engagieren und der Zerbrechlichkeit der Welt nahezukommen. Wohl kaum wurden diese Texte jedoch mit Gormans Sprachmelodie vorgetragen. Der Pole Czesław Miłosz erklärte, Gedichte müssten "unter unerträglichem Zwang" entstehen.

Ideologische Kämpfe auf dem Papier löste dann der Vietnamkrieg aus. Im deutschsprachigen Raum widmete ihm nicht nur Erich Fried "engagierte" Elegien und Sprüche. Paul Celan schickte Einem Bruder in Asien zum Zeichen des Beistands die Zeilen: "Die selbstverklärten / Geschütze / fahren gen Himmel". Einer der fleißigsten Widerstandsdichter aber war im Westen ab seinem 1957 erschienenen Band dieverteidigung der wölfe Hans Magnus Enzensberger: Atomkrieg, Rüstungsindustrie und Konsum griff er dabei ebenso an wie tradierte Formen gebundenen Sprechens. Das Problem, die Uneindeutigkeit der Kunst in den Dienst einer eindeutigen Botschaft zu stellen, war ihm bewusst: Ein Gedicht, das politisch wäre und sonst nichts? "Vermutlich ginge es an seiner propagandistischen Absicht zugrunde."

Protest und Wohlstand

Während Enzensberger zum Star der Studenten wurde, wurden in der DDR Liedermacher wie Wolf Biermann für ihre Kritik mit Auftrittsverboten belegt. Sah Biermann sich in der Nachfolge Heinrich Heines, der aus dem Pariser Exil die Heimat bitter adressierte, diente anderen Bert Brecht als Leitstern. Ironie und uneigentliches Sprechen sollten in ihrer Kritik von sozialistischer Idee und Realität die Zensur ausdribbeln.

In Nigeria dichtete derweil Wole Soyinka aus dem Gefängnis heraus, Mahmud Darwisch ergriff für die Palästinenser das gedichtete Wort.

Immer auf der Hut vor Kitsch und Pathos, aber auch angesichts bequemer Zeiten, sind im deutschen Sprachraum die Mahner in Versen seit geraumer Zeit passé. Ein spätes, stark kritisiertes Beispiel lieferte 2012 Günter Grass mit seinem Israelgedicht Was gesagt werden muss. Die letzte große Begeisterung für Hoffnung in Versen löste 2014 Slammerin Julia Engelmann mit dem wohlstandssatten Eines Tages, Baby aus.

Auf den Demonstrationen in Belarus wird noch politische Lyrik vorgetragen. (Michael Wurmitzer, 21.1.2021)