Joe Biden zeigt sich bei seiner Amtseinführung überraschend progressiv, sagt der Kampagnen- und Kommunikationsberater Yussi Pick im Gastkommentar.

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Joe Biden bei seiner Antrittsrede als neuer Präsident der USA vor dem Kapitol in Washington.
Foto: Reuters / Jim Bourg

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Reparieren, wiederherstellen und heilen.
Foto: Reuters / Jonathan Ernst

Joe Biden ist Sozialdemokrat. Früher oder später wird er also als Hoffnungsträger enttäuschen. Doch in den ersten Stunden seiner Amtszeit zeigt er sich nicht als farbloser Mitte-Politiker, der "beide Extreme" für die "Spaltung der Gesellschaft" verantwortlich macht und primär seine Spenderinnen und Spender zufriedenstellt – wie ihm von linker Seite bereits vorgeworfen wird. Biden zeigt sich in seinen ersten Reden und Taten überraschend progressiv und rechnet deutlich mit der Trump-Vergangenheit ab – ohne zu ignorieren, dass sie Nachwirkungen hat.

Den Ton angeben

Die Rede, die ein neu gewählter Präsident bei seiner Amtseinführung hält, soll den Ton der gesamten Präsidentschaft angeben. Einige der bekanntesten Zitate stammen aus Antrittsreden. John F. Kennedy: "Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt." Franklin D. Roosevelt: "Es gibt nur eine Sache, die wir fürchten müssen, Furcht selbst." Ronald Reagan: "Die Regierung ist nicht die Lösung unseres Problems. Sie ist das Problem."

Von Bidens Rede wird die klare Absage nicht nur an Trump als Person, sondern auch an Trumpismus als Ideologie übrig bleiben.

Der letzte Präsident, der mit Schimpf und Schande sein Amt räumen musste, Richard Nixon, wurde ein Monat später von seinem Nachfolger Gerald Ford begnadigt. Der Impuls vieler farbloser Mitte-Politiker wäre es gewesen, mit vier Jahren Trump ähnlich umzugehen. Doch spätestens seit dem rechtsextremen Putschversuch vom 6. Jänner, bei dem mehrere Menschen ums Leben gekommen sind, ist klar, dass Trumpismus auch ohne Trump bestehen bleibt und dass die Vergangenheit in der Vergangenheit lassen nicht der richtige Weg ist.

Mutig reagiert

Tatsächlich haben Demokraten und Demokratinnen mutig auf den Putschversuch reagiert: Einfach wäre es gewesen, die letzten Tage der Trump-Präsidentschaft auszusitzen. Binnen weniger Tage eine Impeachment-Abstimmung zu organisieren, bei der nicht nur der gesamte demokratische Parlamentsklub mitstimmt, sondern auch zehn Republikaner und Republikanerinnen – so viele wie noch nie –, war ein wichtiges und notwendiges Signal, das im kurzfristigen politischen Spiel um Schlagzeilen wenig bringt – aber für den langfristigen Erhalt der Demokratie essenziell ist.

Die Tatsache, dass Biden das Impeachment begrüßte – obwohl es die legislative Arbeit seiner ersten Monate komplizierter macht –, ist ein Zeichen dafür, was er meint, wenn er in seiner Antrittsrede von Unity (Einheit) spricht. Nämlich nicht ein Vergeben und Vergessen eines rechtsradikalen Umsturzversuchs einer demokratischen Wahl. Im Gegenteil: ein geschlossenes und konsequentes Vorgehen gegen diese Tendenzen.

Worte reichen nicht

Das zeigt sich vor allem in dem, was er nicht sagt: Während sein Vorgänger Barack Obama das Heil in Kompromiss, Bipartisanship, "working across the aisle" – also in parteiübergreifender Zusammenarbeit – suchte, rechnete Biden in seiner Rede deutlich mit Trumpisten ab und scheute sich nicht davor, das Problem zu benennen: White Supremacy und Rassismus.

Es stimmt: Diese Ideologien lassen sich nicht nur durch Worte bekämpfen – ihnen müssen auch Taten folgen. Solange sich die materielle Lebensrealität der meisten US-Amerikaner und US-Amerikanerinnen nicht ändert, fällt Trumpismus weiter auf fruchtbaren Boden.

Links der Mitte

Doch auch hier hat Biden in seinen ersten Stunden als Präsident deutliche Positionen links der Mitte bezogen. Es wäre bequem gewesen, manche bei rechten Demokraten und Demokratinnen nicht unbeliebte Trump-Projekte bestehen zu lassen – hätte ein Bill Clinton den Bau der Mauer zu Mexiko sofort gestoppt? Ein Barack Obama den Stopp von Delogierungen zu seiner Priorität gemacht?

Keine Frage: Mehr geht immer. Die Reduktion der Zinsen auf Studiengebühren auf null Prozent etwa ist weniger als die Forderung nach vollständiger Schuldentilgung. Doch wenn Bidens erste Stunden den Ton und die Entschlossenheit bis zu den nächsten Parlamentswahlen 2022 angeben, dann bleibt die Biden-Administration über meinen Erwartungen. (Yussi Pick, 22.1.2021)