Präludium

Als Walter Gropius 1921 am Bauhaus in Weimar eine Bühnenwerkstatt gründete, war es sein Ziel, alle Genregrenzen zu überwinden und Theater, Design, Musik und Tanz zu einem Gesamtkunstwerk zu verbinden. Der Einfluss dieser Idee auf das moderne Theater hält bis heute an. Eine solche Bühne gab es aber erst im Bauhausgebäude in Dessau – die Cafeteria dahinter war durch Faltwände von der Bühne getrennt, sodass man das erweiterte Theater in ein zweiseitiges Auditorium verwandeln konnte. Der Maler und Bühnenbildner Oskar Schlemmer bemerkte, dass die beiden Schauseiten dem Mittelpunkt erhöhte Bedeutung verleihen und so ein dreidimensionales Spiel erzwingen, das zu neuen Bewegungen und ungekannten verbalen und akustischen Effekten führte.

Das Taipei Performing Arts Center, direkt neben dem Shilin-Nachtmarkt gelegen.
Foto: Chris Stowers

1. Akt

Schlemmers Zitat wirkt wie die Blaupause für Rem Koolhaas’ jüngstes Werk, für das Zentrum für darstellende Künste in Taipeh. Es wurde entworfen, um "die Unvermeidlichkeit der Architektur zu überwinden, dem Möglichen Grenzen zu setzen", wie der niederländische Meister dies ausdrückt. Sein Entwurf ist das "Totale Theater", von dem Gropius einst geträumt hatte – das Aussehen ähnelt Gropius’ papiergebliebenem Entwurf frappierend. Die collagenartige Kombination von Ei und Schachtel scheint aus der Zeit vor hundert Jahren zu stammen, als Gropius mit Erwin Piscator das "Totale Theater" erfand, das die Trennung von Auditorium und Bühne zugunsten eines Raumtheaters aufhob.

In der taiwanesischen Hauptstadt verfolgt Koolhaas keine traditionelle Theaterarchitektur. Er entwarf das Aufführungszentrum von innen nach außen: Das "Experimentieren im Inneren erzeugt außen Präsenz", so Koolhaas. Auf der Ilha Formosa haben ausländische Architekten bei den großen Wettbewerben stets gute Chancen. Sein Office for Metropolitan Architecture (OMA) aus Rotterdam be legte beim Wettbewerb für den Neubau den ersten Platz.

Das Taipei Performing Arts Center, kurz TPAC, liegt an einer der meistgenutzten Hochbahnlinien Taipehs, direkt neben dem Shilin-Nachtmarkt, und offenbart sich lichtens und nächtens zehntausenden Menschen pro Tag. Eine klassische Gliederung in Vorder- und Rückseite gibt es nicht. Das sphärische "Playhouse" ragt als neues Wahrzeichen des 63 Meter hohen Theaters in Richtung Bahnhof aus der Fassade. Die Geometrie fällt Passanten selbst im Wirrwarr der taiwanesischen Hauptstadt noch ins Auge. Wie immer bemüht sich Koolhaas, Funken aus der Kollision von Programmbestandteilen und einer verrückten Erschließung her auszuholen.

Foto: Kevin Mak

2. Akt

Das TPAC besteht aus drei Theatern, die separat funktionieren, aber in einen zentralen Würfel eingebunden sind, der alle Bühnen, Hinterbühnen und Nebenräume zu einem Ganzen zusammenfasst. Die Theatersäle können bei Bedarf gekoppelt werden. Die dunklen Auditorien ragen aus den metallischen Fassaden und kontrastieren mit dem zentralen Würfel, der beleuchtet und mit Glas verkleidet ist. Auf Stelzen aufgeständert lässt der Bau zu seinen Füßen Platz für ein Freiluftkino und einen Food-Market. Projektleiter David Gianotten aus den Niederlanden wollte eine "Lösung, die urban ist und zugleich unverhoffte Theatermöglichkeiten eröffnet".

Wen-chuan Chang, eine junge Übersetzerin aus Taipeh, die länger in Europa gelebt hat und die dortige Architektur- und Theaterszene kennt, verrät den Spitznamen, den die Taiwanesen ihrem Neubau gegeben haben: Die Kugel sieht aus wie ein "Tausendjähriges Ei", die Räume wie ein eckiges Stück Tofu. Beide zusammen ergeben ein beliebtes Gericht, das auf keiner taiwanesischen Speisekarte fehlen darf.

Das asymmetrische "Grand Theatre" widersteht der traditionellen Schuhkartontypologie. Es bietet Raum für Musicals, Ballett, Tanz, Puppenspiel und chinesische Opern. Bühnenebene, Parterre und Balkon wurden zu einer gefalteten Ebene vereint. Neben dem großen Theater für 1500 Besucher liegen zwei weitere Säle mit je 800 Sitzplätzen. Im Inneren der Theaterkugel zirkuliert das Publikum zwischen einer inneren und einer äußeren Hülle. Der Schnittpunkt von Schale und Würfel bildet ein einzigartiges Proszenium. Durch die Koppelung der Säle kann ein riesiges "Totaltheater" geschaffen werden. Der mächtige Raumeindruck erinnert an Science-Fiction-Filme. Intendant Austin Wang wird mit der Bespielung des Hauses alle Hände voll zu tun haben.

Foto: Chris Stowers

3. Akt

Neugierige können die neueste kulturelle Attraktion von Taipeh auch ohne Eintrittskarte betreten. Ein öffentlich zugängliches "Trajekt" macht Teile der Bühne für Besucher sicht- und erlebbar. Die öffentlich begehbare Wegschleife zieht sich durch das Theater, durch seine Infrastruktur und Produktionsräume, und enthüllt, was normalerweise während der Aufführungen verborgen ist. Zahlende Gäste werden erst graduell von der Öffentlichkeit im Haus getrennt, indem sie zu zwei urbanen Balkonen aufsteigen, bevor sie sich für einen der drei Theatersäle entscheiden.

Die Innenarchitektur wurde allerdings nicht von OMA entworfen, sondern vom Pariser Büro Ducks Scéno. Wenn das Theater im April eröffnet wird, wird es den Franzosen kaum schwerfallen, mit ihren szenografischen Beleuchtungssystemen farbige, fulminante Stimmungen in die neutralen Räume hineinzuzaubern.

Trotz der Tatsache, dass Taiwans bester Architekt, Kris Yao, dazu beigetragen hat, dass der niederländische Entwurf vor Ort Wirklichkeit wurde, war das Projekt mit massiven Budgetüberschreitungen und zeitlichen Verzögerungen konfrontiert. Das Richtfest wurde bereits 2014 gefeiert, dann brauchte es noch sieben Jahre bis zur Fertigstellung. Aber das erscheint schnell im Vergleich zu jener Geschwindigkeit, mit der Gropius’ Ideen nun pünktlich zu ihrem hundertsten Geburtstag Wirklichkeit werden.

Foto: Chris Stowers

Finale

Die Baukosten für dieses Projekt trägt die Stadt als Bauherrin. Sie muss aber nicht erst eine vitale Tanz- und Theaterszene fördern – denn die gibt es schon flächendeckend. Taiwan ist jung und dynamisch und genießt seine im Vergleich zu China ungleich größeren künstlerischen Freiheiten. Das Cloud Gate Dance Theater ist Taiwans letzter großer Erfolg in der Welt des Theaters.

Derzeit gibt es in Taiwan etwa vierzig Theater. Doch um im National Theater oder in der National Concert Hall auftreten zu können, müssen viele Tourneegruppen lange Wartefristen in Kauf nehmen. Das Chiang-Kai-shek-Kulturzentrum soll daher zusätzlich zum Neubau des Performing Arts Centers erneuert werden. Dann werden Theaterliebhaber in Taipeh die Wahl zwischen zwei Weltklasse-Bühnenhäusern haben. In Europa beneidet man Taiwan in Theaterkreisen bereits darum, das Konzept von Gropius auf seine kulturellen, dramaturgischen und interdisziplinären Qualitäten hin testen zu können. (Ulf Meyer, 24.01.2021)