In der Ausbildung wird meist an echten Menschen geübt. Manchmal kommt "Frau Huber", die Übungspuppe, zum Einsatz, der hier eine Trainerin das Gesicht wäscht.

Foto: Robert Newald

Der vorläufige Untergang der Flugzeugindustrie steht für Viktoria Gehnböck am Anfang ihrer neuen Karriere. Die 31-jährige gelernte Kunststofftechnikerin hat ihr halbes Leben beim Flugzeughersteller FACC in Oberösterreich gearbeitet. Sie sorgte dafür, dass Flügelspitzen für die Boeing 737 zeitgerecht produziert und ausgeliefert werden. Damit ist es vorbei.

Corona hat Airbus und Boeing in die Krise gestürzt. Zulieferer weltweit wurden mitgerissen. Auch FACC. Im vergangenen Herbst haben Gehnböck und 650 ihrer Kollegen den Job bei dem Industriebetrieb verloren. "Es war ein Schock", erzählt sie. Aber dann ging alles "zack, zack, zack".

Jetzt, Mitte Jänner, steht Gehnböck in einem Seminarraum des Bildungsdienstleisters BFI in Ried im Innkreis und wäscht Frau Huber, so nennen die Kursteilnehmer hier die Übungspuppe, sanft das Gesicht mit einem Lappen.

Zwei Jahre wird sie über Anatomie und über die soziale Begleitung alter und kranker Menschen lernen. Sie wird üben, wie man Medikamente verabreicht, anderen Menschen vorsichtig die Zähne putzt, die Windeln wechselt. Gehnböck lässt sich zu einer Pflegefachkraft umschulen.

Kluft verkleinern

Sie hat es geschafft. Trotzdem verbirgt sich hinter ihrer Geschichte die Causa eines gravierenden Marktversagens. Durch die Alterung der Gesellschaft und Pensionierungen beim Pflegepersonal ist in vielen Regionen Österreichs eine wachsende Kluft entstanden zwischen der Zahl der alten Menschen, die eine Betreuung brauchen, und jenen Personen, die als Pfleger arbeiten wollen.

Als bei FACC die Kündigungswelle losging, sahen Verantwortliche eine Chance, diese Kluft regional etwas zu verkleinern. Die zuständige oberösterreichische Soziallandesrätin, Birgit Gerstorfer (SPÖ), rief eine Kampagne ins Leben, um Arbeitnehmer aus dem Flugzeugwerk zu einer Umschulung in die Pflege zu animieren. Bezirkspolitiker und AMS-Vertreter rückten aus, um zu werben.

"Ich habe alles gesehen"

Es gab Infoveranstaltungen, AMS-Förderangebote und jede Menge Berichte in lokalen Zeitungen von der Pflegeausbildung als "großer Chance". Von den 650 Menschen, die ihren Job bei FACC verloren haben, landeten bis heute dennoch bloß drei in der Pflegeausbildung. Wie kam das, und was sind die Folgen?

Wer Viktoria Gehnböck und ihren beiden Ex-Kollegen vom Flugzeugbauer, Sabine Heit und Mario Friedl, die nun ebenso als Pfleger ausgebildet werden, zuhört, wundert sich, dass nicht viel mehr Ex-FACC-Mitarbeiter den Sprung gewagt haben.

Die drei geraten ins Schwärmen, wenn sie über ihren künftigen Job sprechen, der offiziell "Fachsozialbetreuer Schwerpunkt Altenarbeit" heißt. "Früher bist du von der Firma heimgegangen und hast nicht sagen können, was du Gutes getan hast", sagt Viktoria Gehnböck. "Jetzt ist das anders."

Die drei beschreiben ein tiefes Glücksgefühl, das sie erfahren, weil sie von anderen Menschen gebraucht werden. "Ich mag einfach alte Leute", sagt Sabine Heit, früher Schichtleiterin in der Produktion. Sie hat schon in der Vergangenheit ehrenamtlich in Heimen ausgeholfen.

Nachdem ihre Ausbildung gestartet war, musste sie ein einwöchiges Praktikum im örtlichen Altenheim absolvieren. "Wie dankbar da viele Menschen für die Zuwendung waren: Das hat mich bestärkt." Und ihr Ex-Kollege Friedl sagt: "Schon am zweiten Tag im Praktikum habe ich die erste Leiche transportieren müssen. Ich habe alles gesehen. Mich hat das nicht gestört."

Spezieller Beruf

So ergeht es nicht allen. Die Leiterin der Schule für Sozialbetreuungsberufe am BFI Ried, Brigitte Pointner, erzählt, dass es von vornherein illusorisch war zu glauben, dass auf die Kündigungswelle bei FACC der Run auf die Pflege kommt. Es sei ein spezieller Beruf, der nicht "für jedermann und jedefrau passt".

Wer psychisch nicht belastbar genug ist oder zu schlecht Deutsch spricht, um die Ausbildung zu schaffen, wird nicht aufgenommen. Nach dem Aufnahmetest folgt das einwöchige Praktikum. Für viele ist hier Endstation. Exkremente, Tod, die Gerüche, körpernahe und mitunter sehr anstrengende Arbeit. Das muss man alles aushalten.

Dazu sind großteils bis heute nur Frauen bereit. Die Rollenverteilung ist zwar heute nicht mehr so strikt, aufgehoben ist sie aber nicht. Auch das schränkt die Zahl der Interessierten für die Pflegeberufe ein.

Der Mangel lässt sich in Zahlen gießen. Laut einer Studie der Gesundheit Österreich GmbH, die Planungsarbeit zu gesundheitspolitischen Fragen macht, werden bis zum Jahr 2030 rund 76.000 Menschen zusätzlich für Pflegearbeit mit Alten und Behinderten in Heimen, Spitälern und für daheim benötigt. Demgegenüber gibt es zu wenige Interessierte. Laut Schätzung auf Basis der Studie könnten bis 2030 rund 30.000 Menschen fehlen, die eine Pflegeausbildung beginnen.

Derzeit absolvieren beim BFI in Ried etwa 50 Menschen die Schule für Sozialbetreuungsberufe.
Foto: Robert Newald

800 Euro gehen sich nicht aus

Dabei gelten Krisen wie die aktuelle als eine Chance, daran etwas zu ändern. Wenn die Wirtschaft schlecht läuft, gut bezahlte Arbeitsplätze rar werden, tun sich Menschen leichter, etwas Neues zu beginnen. Das ist aus vielen Untersuchungen bekannt. Wo also hakt es in Oberösterreich gerade?

Nur wenige Schritte vom BFI in Ried entfernt hat Klaus Jagereder seinen Arbeitsplatz. Er leitet das AMS-Regionalbüro. Von den 650 freigestellten Arbeitnehmern bei FACC fielen 310 in seine Zuständigkeit. Wo sind sie? 100 haben gleich nach der Kündigung etwas Neues gefunden, erzählt Jagereder. Trotz Krise hat sich Österreichs Industrie gut geschlagen. Auch im Bezirk Ried suchen viele Betriebe Mitarbeiter. Von jenen 200, die zum AMS kamen, meldeten rund 60 ein Ausbildungsinteresse an. 30 kamen zu den Infoabenden für die Pflege. Übrig blieben drei. Der große Rest warte auf bessere Angebote.

Das liegt auch am Geld, sagt Jagereder. Wer über das AMS die Pflegeausbildung macht, bekommt das Arbeitslosengeld, also 55 Prozent vom Letztbezug. Von Stiftungen für Gesundheitsberufe kommen 150 Euro drauf, aktuell gibt es noch einmal so viel als staatlichen Ausbildungsbonus.

Vor allem für jene, die vorher Teilzeit gearbeitet haben, etwa im Handel, schauen nicht mehr als 800 Euro im Monat raus. Zwei Jahre mit diesem Betrag zu leben, "das geht sich für viele nicht aus", sagt Jagereder. Und es gibt bessere Angebote: Mehrere Industriebetriebe in der Region fördern Ausbildungen für Arbeitslose und zahlen 400 Euro zum Arbeitslosengeld drauf, erzählt er. Angebot und Nachfrage.

Höhere Entlohnung

Dabei waren die Voraussetzungen beim Flugzeugbauer besser für einen Umstieg in Pflegeberufe als sonst üblich. Für langjährige Mitarbeiter gab es einen Sozialplan mit Abfindungen von 20.000 Euro plus. "Ohne dieses Geld würde sich das nicht ausgehen", sagt Ex-FACC-Mann und Pflegeschüler Mario Friedl.

Und wie sehen die späteren Verdienstmöglichkeiten aus? Als Pflegefachkraft liegt das Einstiegsgehalt bei rund 2300 Euro brutto für 40 Stunden in den Heimen in Oberösterreich. Das ist nicht wenig. Aber im Metallgewerbe kommen ungelernte Arbeiter auf fast ebenso viel. Oberösterreichs Soziallandesrätin Birgit Gerstorfer sagt, dass mehr Geld in der Ausbildungszeit und später eine höhere Entlohnung notwendig wären, um den Job attraktiver zu machen. Dafür fehle aber das Geld.

Staat greift ein

Ein Job, für den viele von Haus aus nicht infrage kommen, und ein Markt, bei dem Angebot und Nachfrage nicht zusammenfinden, sind also die Ursachen dafür, dass zu wenige von FACC für eine Umschulung zu begeistern waren. Aber wie geht das? Wenn nicht genug Angebot an Arbeitskräften da ist, sollten eigentlich die Löhne so lange steigen, bis sich etwas ändert. Warum passiert das hier nicht?

Die Antwort darauf ist das dunkelste Kapitel dieser Geschichte.

Sieglinde Grimmer leitet das Altenheim in Ried. 256 Betten für pflegebedürftige Menschen hat ihr Haus, erzählt sie, 50 davon werden geschlossen gehalten, obwohl Nachfrage besteht. Der Grund? "Pflegekräfte fehlen", sagt die Heimleiterin. "Es ist sehr mühsam, ausreichend Personal zu finden, und es ist in den vergangenen Jahren schwieriger geworden".

Statt also das Problem über höhere Löhne zu regeln, greift der Staat ein und verhindert die Aufnahme von Pflegebedürftigen. Rund 470 Betten sind in Oberösterreich aktuell wegen fehlender Pflegekräfte nicht zu besetzen. Das Problem trifft nicht alle Regionen gleich, manche gar nicht, in Ried ist die Situation am schlimmsten. Die Verlierer sind jene Menschen, die keine Aufnahme finden, sagt Grimmer.

Zu ihr ins Pflegeheim kommen nur Menschen mit schweren Krankheitsbildern. Sie alle brauchen dauerhafte Betreuung. Wer nur auf der Warteliste für das Heim steht, muss sich die Versorgung selbst organisieren. "Meine Pfleger gehen nach einem harten Tag nach Hause", sagt Heimleiterin Grimmer. Angehörige, die ihre Verwandten zu Hause betreuen, können das nicht. "Sie sind oft 24 Stunden im Einsatz. Es ist Wahnsinn, welche Höchstleistungen Menschen da erbringen müssen." (András Szigetvari, 24.1.2021)