Wer einkaufen geht oder mit Öffis fährt, muss nun die wirksameren FFP2-Masken tragen, außerdem gilt ein Sicherheitsabstand von zwei Metern. Richtig, aber zu spät, kritisieren Experten.

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Der blassblaue Stoff vor dem Gesicht macht einen zum Sonderling. Niemand sonst trägt hier, in einem Tankstellenshop im Oberen Murtal, Mund-Nasen-Schutz. Der Mann mit der Gösser-Dose an der Schank lässt die Maske ebenso am Hals baumeln wie die Verkäuferin, die zum Kaffeeservieren bereitwillig hinter ihrer Plexiglasscheibe hervorkommt. Der Gast am Stehtisch, der einen Verlängerten bestellt, hat gleich gar keine dabei.

Die steirische Straßenstation ist nicht nur in Kilometern gerechnet weit vom Regierungsviertel in Wien entfernt. Während mancherorts selbst die grundlegenden Anti-Corona-Regeln noch nicht – oder nicht mehr – beherzigt werden, verhängt die türkis-grüne Koalition die nächsten Verschärfungen.

Ab Montag sind zwei statt einem Meter Abstand zu halten sowie in Handel und Öffis die wirksameren FFP2-Masken zu tragen – vergleichsweise unkomplizierte Maßnahmen, die weniger wirtschaftlichen Schaden anrichten als Geschäftsschließungen. Da drängt sich die Frage auf: Warum ist die Regierung da nicht schon früher, als im Herbst die Infektionszahlen anschwollen, draufgekommen?

Tradiertes Scheinwissen

Darüber rätselt auch mancher Experte. "Bei jeder neuen Verordnung habe ich erwartet, dass die Abstandsregel ausgeweitet wird", sagt Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS). Schließlich ist es seit Monaten wissenschaftlicher Konsens, dass infektiöse Aerosole unter ungünstigen Bedingungen – enge Räume, lautes Sprechen – deutlich weiter fliegen können.

Tradiertes Scheinwissen, das nie überprüft wurde, sieht der Forscher hinter der Ein-Meter-Regel: Der beschworene Babyelefant reiche in vielen Fällen nicht aus, zumal sich die Leute ohnehin einen Toleranzspielraum gönnten.

Anderswo ist diese Botschaft früher gesickert. Viele EU-Staaten setzen seit der ersten Welle auf einen Zwei-Meter-Abstand, auch in den deutschen Bundesländern liegen die Limits schon seit dem Frühling 2020 fast durchwegs über dem heimischen Maß. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hingegen empfiehlt nach wie vor einen Meter Distanz.

Je mehr Abstand, desto besser

"Österreich zählt zu den Ländern, die bisher den geringsten Abstand vorgeschrieben haben", bestätigt Michael Wagner, Vize-Leiter des Zentrums für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaft an der Uni Wien: "Ich hätte es gut gefunden, wenn die Regierung die Distanzregel schon früher ausgeweitet hätte. Je mehr Abstand, desto besser aus virologischer Sicht, wobei die zwei Meter allein noch nicht die Lösung sind."

Wenn sich in einem ungelüfteten Raum viel Aerosole über die Atemluft ansammeln, könne selbst das neue Limit zu gering sein: "Am besten man stellt sich vor, mit einem Raucher im Raum zu sitzen. Würde einem der Qualm in die Nase steigen, ist man auch vor den Viren nicht sicher."

Für die neue FFP2-Masken-Pflicht gelte dasselbe: "Natürlich wäre es sinnvoll gewesen, wäre dieser hocheffektive Schutz schon früher vorgeschrieben worden." Am eigenen Institut, erzählt Wagner, würden die bereitgestellten Masken seit Monaten ausnahmslos getragen – mit Erfolg. Zwar habe es einzelne Corona-Fälle gegeben, doch die seien allesamt von außen hereingetragen worden: "Ansteckung gab es am Institut keine einzige."

Max Leschanz erklärt wie man eine FFP2-Maske richtig an- und ablegt, und wie man sie am besten reinigt.
DER STANDARD

Beschaffungsprobleme

Czypionka urteilt im Fall der Masken milder als beim Abstand. Natürlich sei das FFP2-Modell überlegen, da dieses den Träger stark vor Ansteckung schützt. Doch schon herkömmliche Masken seien, korrekt angewandt, sehr wirksam, weil sie zumindest den Mitmenschen einen guten Schutz bieten.

FFP2-Masken seien nun einmal teuer, gibt er zu bedenken – und die Politik tue sich schwer, mehrfachen Gebrauch zu empfehlen, wenn dieser eigentlich nicht vorgesehen ist. Außerdem habe die WHO mit ihrer lange demonstrierten Maskenskepsis auch da einen fragwürdigen Weg vorgegeben: "Das Kalkül war offenbar: Wenn eine Maßnahme viele Mitgliedsstaaten vor Beschaffungsprobleme stellt, empfehlen wir das lieber nicht."

Regierung hat nie gefragt

Spielt das auch in Österreich eine Rolle? Hätten Produzenten die Nachfrage nach FFP2-Masken im Herbst im gleichen Ausmaß befriedigen können wie heute? Während der Anbieter Hygiene Austria ausweichend reagiert ("diese hypothetische Frage ist heute schwer zu beantworten"), antwortet Dominik Holzner, Geschäftsführer des Mitbewerbers Aventrium Health Care, mit einem Ja: Man hätte im Herbst die Produktion bereits genauso hochfahren können, wie es nun passiere.

Ähnliches sagt Harald Fischl, Leiter der Firma Swano-Tex, die gerade auf FFP2-Produktion umstellt. Das Problem sei ein anderes: "Hätte uns die Regierung mit ein paar Wochen Vorlauf informiert, täten wir uns leichter. So aber müssen wir fast betteln gehen, um in der Eile die neuen Maschinen aufzutreiben." Alle drei Anbieter halten fest: Nie habe sich die Regierung erkundigt, wie viele FFP2-Masken wie rasch produziert werden könnten.

Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) erklärt das Timing der Regierung mit den jüngsten Kapriolen der Pandemie. "Die Virusmutation B.1.1.7 verbreitet sich dynamisch in Europa und dem Rest der Welt. In Irland und Großbritannien kam es bereits zu einer Vervielfachung der Infektionszahlen", argumentiert der Ressortchef: Die FFP2-Maskenpflicht sei ebenso wie der höhere Mindestabstand "zielorientiert" auf die Risiken der neuen Variante – ein stark erhöhtes Ansteckungsrisiko – zugeschnitten.

Unterschätzte Gefahr

Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker hat, vom STANDARD angesprochen, einmal ein anderes Argument gegen die FFP2-Pflicht angeführt. Auf Dauer seien diese Masken schlicht zu unangenehm, sagte er: Wenn Vorschriften zur Qual würden, hielten sich die Menschen immer weniger daran.

Hat das nicht etwas für sich? Experte Czypionka teilt diese Meinung nicht. Man müsse die Leute eben besser motivieren, empfiehlt er: "Wenn es eine klare Botschaft gibt, ab welcher Infektionszahl der Lockdown endet, würden sich viele mehr ins Zeug legen."

Auch der Mikrobiologe Wagner bewertet die Sachlage anders als die Politik. Dass die Regierung den Zwei-Meter-Abstand und die FFP2-Masken-Pflicht – "beides wirkungsvolle Maßnahmen" – nicht früher ergriffen hat, erklärt er sich mit einer Unterschätzung der Gefahr, die sich ab dem Sommer breitgemacht habe: "Damals waren die Infektionszahlen trügerisch niedrig. Manche Experten, Politiker und Teile der Gesellschaft wollten Warnungen aus der Wissenschaft nicht hören, dass die zweite Welle der Pandemie im Herbst und Winter kommen werde."

Für die nahe Zukunft hat er deshalb eine dringende Empfehlung. Wenn die Zahlen durch den Lockdown auf ein verträgliches Maß gedrückt sind, dürfe keinesfalls gleich wieder zu schnell gelockert werden. Entscheidend sei zudem, durch massives Testen, Contact-Tracing und Isolieren die Kontrolle zurückzugewinnen: "Sonst wird das ein ewiges Auf- und Zusperren." (Gerald John, 23.1.2021)