Unvergessen die Treffen mit einem der Pioniere der angewandten Sozialwissenschaft in Österreich. Ein Kipferl und ein Kakao im Café Ritter oder Landtmann waren die fixen Bestandteile einer mehr als bereichernden Konversation mit Ernst Gehmacher. Permanente Bewegung im physischen wie im mentalen Sinne charakterisieren den Menschen Gehmacher am besten. In ihm schlummerte ein messerscharfer Verstand, der so manch einem jüngeren Fachkollegen von heute ob seiner schier endlos scheinenden Kreativität und Offenheit für Neues alt aussehen ließ. Gehmacher war einer der letzten seiner Art der Spezies Feldforscher gewesen. Am 22. Jänner ist der Sozialwissenschafter verstorben.

Witzeling

Ökologische Validität: Von der quantitativen zur qualitativen Forschung

Er verkörperte einen Typus von Wissenschafter, der die Welt nicht durch das mentale Mikroskop von null und eins der Generation Excel und SPSS betrachtete, sondern in der realen Interaktion von Mensch zu Mensch die Basis aller Sozialforschung sah. Klingt banal, ist aber in Zeiten in denen permanent über Rohdaten und Repräsentativität von Studien in den Medien diskutiert wird - nie aber die Frage nach der wahren Grundlage für eine gute Forschungsarbeit gestellt wird - neben der Qualität der Erhebung selbst von höchster Relevanz.

Wie kommen die Datensätze auf denen herumgedoktert wird zustande? Daher setzte er sich mehr und mehr mit dem Ursprung ökologisch valider Daten, die nicht durch Callcenter- oder Online-Erhebungen lieblos zwischen Waschmittel- und Parteipräferenzfragen in den Datensatz einfließen, auseinander. Er wusste ganz genau über die Bedeutung einer gut geplanten und sorgfältig durchgeführten Untersuchung Bescheid und vor allem über den Wert von sogenannten qualitativen Informationen aus Tiefeninterviews oder Fokusgruppen. Gehmacher ging weg von wenig differenzierten Massenerhebungen, bei denen nach vorgegebenen Fragebogenskalen vorgefertigte Hypothesen getestet werden, hin zu offenen Fragestellungen, die er in kleinen Mikrosettings erhob. Derartige wissenschaftliche Arbeit ist zeitintensiv und zumeist auch wesentlich teurer, aber der einstige Boku-Absolvent nahm sich diese und kam so zu seinen neuen Forschungsfeldern der Analyse von Sozial- und Humankapital. Er entwickelte Methoden zur Operationalisierung und Messbarmachung des Feinstofflichen.

Gehmacher bei einem Symposium 2014.
Foto: Robert Newald/derstandard

Sozialkapitalforschung

Sozialkapital ist der soziale Zusammenhalt innerhalb einer Gemeinschaft, der in Zeiten der Krise neben ökonomischen Ressourcen immer wichtiger wird. Gehmacher erkannte die Bedeutung dieses Themas weit vor der Corona-Pandemie und der damit assoziierten sozialen Problematik. Seine Ansätze, nicht per Mausklick Billigdaten zu erfassen, sondern - so paradox es bei allem “Abstand halten“ auch sein mag - den Menschen in der kleinen Zelle der Realität in ihren Wohnräumen, in den Parks oder auf der Straße auf Augenhöhe zu begegnen, wird bei allen Algorithmen, Blockchain-Technologien und Künstlicher Intelligenz nie an Aktualität verlieren. In diesem Sinne, lieber Ernst, auf zu neuen Ufern der Erkenntnis. (Daniel Witzeling, 3.2.2021)

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