Martin Schläpfer: "Das Älterwerden ist für mich – innerlich – nur schön."

Foto: Ashley Taylor

Impfen wird sich Martin Schläpfer auf jeden Fall lassen. "Es ist einfach das kleinere Übel, das man wählen muss. Auch als Gesellschaft." Denn, so der im vergangenen Herbst neu angetretene Direktor des Wiener Staatsballetts, hinter kulturellem Reichtum steckt eben auch Geld. "Das ist das Fantastische in Wien: Wenn ich morgens die Zeitungen lese – wie viel es an Kultur oder Kunst gibt und dass man nicht ständig die Debatte hört, das sei zu teuer." Wird da einmal gestrichen, schwindet das kulturelle Klima. Die Folge: "Der Mensch orientiert sich woanders hin und vermisst es nicht mehr – obwohl das ein großer Verlust wäre."

Der 61-jährige geborene Schweizer kann auf mehr als ein Vierteljahrhundert Erfahrung als erfolgreicher Ballettchef zurückblicken. Begonnen hat er 1994 in Bern, wechselte nach fünf Jahren ans Mainzer Ballett und wurde 2009 künstlerischer Leiter des Balletts am Rhein in Düsseldorf/Duisburg, das unter seiner Ägide bei zwei Kritikerabstimmungen zur Compagnie des Jahres gekürt wurde. Für seinen Erfolg musste der ruhig und nachdenklich wirkende Martin Schläpfer keine schrille Medienperson sein. Die Qualität seiner Arbeit und seine Beharrlichkeit sprachen für sich.

Aber jetzt in den Zeiten der Pandemie kann auch er seine Kraft nicht ausleben: "Weil nichts im Flow ist, alles hockt auf dem Leim. Was man an Erfahrung, Plänen und Visionen hat, ist zum Teil auf Eis gelegt. Es ist wie ein dampfender See an einem kalten Wintermorgen. It evaporates, but you can’t move the way you want." Aber jammern helfe niemandem. Er müsse seine Compagnie "stützen, gut informieren und Verständnis zeigen". Im Gegensatz zum ersten Lockdown im Vorjahr dürfen die Tänzer jetzt immerhin proben. Daher kann Schläpfer die Compagnie schnell einsetzen, sobald wieder geöffnet wird.

Pragmatisch und politisch

Den aktuellen Schließungen fällt auch die Wien-Premiere seines Stücks Ein deutsches Requiem, die am 30. Jänner auf dem Spielplan der Volksoper gestanden wäre, zum Opfer. Keine Fernsehübertragung, kein Onlinestreaming? "Nein. Direktor Meyer hat entschieden, derzeit grundsätzlich keine Vorstellungen aus der Volksoper zu streamen." Dabei gibt es auch für Ein deutsches Requiem keine Ausnahme. Schläpfer sagt es gleichmütig, wenn auch nicht gerade glücklich, und übt sich in Pragmatismus: "You have to make the best out of it."

Richtig in Wien angekommen ist er noch nicht. Seine Wohnung im neunten Bezirk sei weder groß noch teuer, sagt er, weil "ich im Tessin ein Haus habe, das auch bezahlt werden muss". Das wird wohl einmal seine Altersresidenz sein, den Umbau hat er gerade abgeschlossen.

Die Wiener Wohnung hatte er wegen Covid nur digital besichtigen können. "Dann bin ich umgesiedelt, und es ging los. Seit damals geht’s eigentlich nur noch los." Die Frage, ob ihn "das Publikum annimmt", bleibt trotzdem bis auf Weiteres unbeantwortet. Bei der Compagnie stimmt die Akzeptanz, da hat Schläpfer "ein gutes Gefühl".

Was er angesichts der Politik rund um Corona nicht sagen würde, sowohl im kleinen Rahmen – "mehr Empathie hat es bisher nicht gebracht" – als auch im großen: "Wie passiv Europa die Flüchtlingspolitik beobachtet!". Außerdem hält er die Ökologie in finanzieller Hinsicht für "genauso zwingend wie die Pandemie". Da werde es spannend sein zu sehen, ob es nach Covid wieder nur um mehr Konsum geht oder ob dann mit der Natur doch anders umgegangen wird.

In seiner Familie sei es immer ausgesprochen politisch zugegangen, erzählt Schläpfer in diesem Zusammenhang. Der Vater, ein Unternehmer, liebäugelte damit, in die Politik zu gehen, ließ es aber dann doch bleiben. Zu Hause gab es leidenschaftliche Diskussionen, vor allem zwischen dem Vater und dem ältesten Sohn. Dieses Klima hat Martin, den mittleren von drei Schläpfer-Brüdern, stark geprägt: "Ich diskutiere auch heute gerne, bis fast aufs Blut. Viele möchten loslassen, wenn’s spannend wird. Aber ich finde, erst dann wird es interessant. Von meinem Vater habe ich gelernt, für etwas zu kämpfen." Zum Beispiel für sein Metier: "Irgendwann hat es mich genervt, wenn es hieß, man kann nicht über Tanz reden, weil er eine nonverbale Kunst ist. Das ist einfach nicht wahr!"

Psychologisch geschult

Das Politische ist in seinen eigenen Stücken, von denen er bisher gezählte 73 choreografiert hat, "als Ingredienz oder Essenz" beigemischt: "Wenn etwa eine Frau mit dem Ballettschuh Widerstand zeigt, kann auch die Muskulatur politisch sein." Martin Schläpfer glaubt zwar nicht wirklich daran, als Künstler die Welt verbessern zu können, aber "ich kann Menschen verändern, kann sie liberaler und offener halten". Ausgesprochen wichtig war dabei der Austausch mit seinem älteren Bruder, der nach dem Medizinstudium Psychiater in Richtung Psychoanalyse geworden ist. Denn "eine Compagnie zu leiten hat viel mit Psychologie zu tun".

In Düsseldorf hatte Schläpfer selbst über rund vier Jahre hin alle drei Wochen eine Sitzung: "Weil man als Chef das Instrument Macht besitzt, auch verletzen oder verletzt werden kann, und weil man gewisse Schubladen in Bezug auf Tänzer in sich hat. Da habe ich unglaublich viel gelernt. Mein Bruder geht als Psychiater ja schon sein Leben lang selbst in Supervision. Er hat mich wirklich toll beraten." Und so versucht der Choreograf und Ballettleiter, sich in die Tänzer hineinzuversetzen, um mit ihnen auf Augenhöhe arbeiten zu können.

Nur einmal verwendet Martin Schläpfer ein Kraftwort: auf die Frage, was die Covid-Situation zurzeit mit ihm als Künstler macht. Aber dann meint er, vielleicht ist "dabei auch ein Ego-Problem, dass man nicht so gut sein kann, wie man glaubt, man wär’s". Jedenfalls wird er nicht von Zweifeln zerfressen: "Dafür bin ich zu stabil – mir geht es seit einigen Jahren sehr gut. Das Älterwerden ist für mich – innerlich – nur schön." (Helmut Ploebst, 26.1.2021)