Martin Senn, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck, schreibt in seinem Gastkommentar über die Gefahr von Nuklearwaffen und warum es richtig ist, "mündige Bürger und Bürgerinnen mit dieser Realität zu konfrontieren".

Das österreichische Außenministerium erntete heftige Kritik, als es vergangene Woche ein kurzes Video auf Twitter präsentierte, das die Auswirkungen einer nuklearen Detonation über Wien zeigt. Die Notwendigkeit nuklearer Abrüstung war die Botschaft, der Anlass war kein geringerer als das Inkrafttreten des Vertrags über das Verbot von Nuklearwaffen, an dessen Entwicklung Österreich federführend beteiligt war. Die negativen Reaktionen auf dieses Video sind überzogen, und sie zeigen, dass wir uns der Komplexität gegenwärtiger Risiken zu wenig bewusst sind.

Aufklärend oder einfach peinlich? Ein Video, das eine Atombombenexplosion über Wien zeigt, spaltet.
Foto: Screenshot / Außenministerium / Youtube

Das Ausmaß der Zerstörung, die moderne Nuklearwaffen anrichten können, übersteigt die menschliche Vorstellungskraft. So hat etwa der W-87-Sprengkopf der USA eine Sprengkraft von 300 Kilotonnen, also 300.000 Tonnen TNT, was dem Zwanzigfachen jener Bombe entspricht, die im August 1945 Hiroshima in Schutt und Asche gelegt hat. Der größte jemals zur Detonation gebrachte Sprengsatz lag mit 50 Megatonnen gar bei mehr als dem 3000-Fachen der Hiroshima-Bombe.

Um solche Zahlen ansatzweise einordnen und damit die von Nuklearwaffen ausgehende Gefahr begreifbar machen zu können, haben sich Abrüstungsbefürworter einer Reihe von Mitteln bedient. Diese lassen sich grob in zwei Perspektiven einteilen. Die erste Perspektive ist jene der Opfer. Sie legt den Fokus auf das physische und psychische Leid sowie die Eindrücke des nuklearen Infernos, wie sie etwa die Hiroshima-Überlebende Setsuko Thurlow so eindringlich schildert. Diese Perspektive wirkt durch Empathie mit den Opfern und durch die Angst vor dem eigenen Tod auf die Empfängerinnen und Empfänger.

Die zweite Perspektive ist jene auf das Ausmaß der Zerstörung. Dabei finden etwa Luftaufnahmen von Hiroshima und Nagasaki vor und nach den nuklearen Detonationen Verwendung. Diese sind jedoch nur sehr eingeschränkt geeignet, um die Zerstörungskraft moderner Nuklearwaffen zu veranschaulichen. Befürworter nuklearer Abrüstung arbeiten daher mit Szenarien nuklearer Detonationen an bekannten und beliebten Orten. In den USA ist beispielsweise New York City jener Ort, der häufig zur Illustration der Wirkung einer nuklearen Detonation herangezogen wird. Während also die erste Perspektive vor allem durch Empathie wirkt, holt die zweite Perspektive Nuklearwaffen in das Hier und Jetzt. Sie stellt eine Verbindung zwischen der abstrakten Gefahr und der konkreten Lebenswirklichkeit her.

Bekannte Pfade

Dahingehend folgt das kurze Video des Außenministeriums also bekannten Pfaden. Aber soll man in Zeiten der Pandemie überhaupt auf die Gefahr von Nuklearwaffen hinweisen? Haben die Menschen nach knapp einem Jahr der Pandemie nicht bereits ein (zu) hohes Maß an mentaler Belastung? Zunächst sei hierzu angemerkt, dass das Außenministerium mit einem Clip von weniger als zwei Minuten und einigen Tweets auf die Gefahr von Nuklearwaffen und das Inkrafttreten des Verbotsvertrags verwiesen hat, nicht durch eine breit ausgerollte und anhaltende Kampagne.

Manifeste Bedrohung

Vor allem aber sind Nuklearwaffen eine manifeste und anhaltende Bedrohung für die Existenz der Menschheit. Während diese die Pandemie überstehen wird, wenn auch mit erheblichen Folgekosten, könnten die gegenwärtigen Nuklearwaffenarsenale immer noch die menschliche Zivilisation zerstören. Selbst ein begrenzter Nuklearkrieg, etwa zwischen Indien und Pakistan, hätte enorme Konsequenzen und könnte durch eine massive Hungersnot mehr als eine Milliarde Menschen bedrohen.

Zudem müssen wir mit komplexen Risiken und Gefahren umgehen, die uns gleichzeitig vor unterschiedliche Herausforderungen stellen und teilweise aufeinander wirken. Auf diese Komplexität gilt es, sich einzustellen, denn es wird uns nicht möglich sein, eine Herausforderung nach der anderen zu bewältigen. Daher muss es erlaubt sein, ja ist es sogar geboten, mündige Bürger und Bürgerinnen mit dieser Realität zu konfrontieren.

Wenn man dem Video des Außenministeriums etwas vorwerfen möchte, dann dass es zu wenig weitreichend und drastisch war. Nuklearwaffen zerstören nicht nur durch die Druckwelle, Hitze und Radioaktivität ihrer Detonation, sondern bereits durch ihre Produktion. Sie führen zu Krebserkrankungen und Gendefekten bei jenen, die in Uranminen oder Testgeländen radioaktiven Substanzen ausgesetzt waren. Sie nehmen Menschen ihre Heimat und machen diese zu kontaminierten Gefahrenzonen. Diese Folgen muss man nicht mit Videoanimationen darstellen – man kann sie an vielen Orten dieser Welt betrachten. (Martin Senn, 27.1.2021)