Stanley Kubrick gestaltete das "Uhrwerk Orange"-Programm selbst.

An Stanley Kubrick konnte man sich nicht vorbeischwindeln. Der US-Regiestar war zeitlebens für seinen Perfektionismus berüchtigt, ein Freund der Kommunikationskontrolle, würde man heute sagen, dem nichts entging. Auch nicht, dass im kleinen Österreich ein Programm zu Uhrwerk Orange publiziert werden sollte. Mit der Praxis von an Kinokassen verkauften Heften nicht vertraut, stellte sich Kubrick stur. Bis ihn Herausgeber Rudolf Maly mit dem schönen Satz überzeugte, dass dieses in Österreich zum Kino gehöre wie das "Ende zum Film". Kubrick ließ sich erweichen, unter der Bedingung, dass er die Gestaltung mitbetreute.

Das Ergebnis, in dem die Schauplätze der bis heute verstörenden filmischen Gewaltstudie aufgeschlüsselt werden, ist in der zweibändigen Publikation Kino zum Mitnehmen des Filmarchivs Austria nun zu bewundern. Die reich bebilderte Geschichte der heimischen Filmprogramme schließt eine Lücke der Filmgeschichtsschreibung: Herausgegeben hat sie der Wiener Autor Herbert Wilfinger, der sich vom leidenschaftlichen Sammler der Hefte – über 20.000 nennt er sein Eigen – zum Experten, Herausgeber und eben Historiker dieser losen Publikationen entwickelt hat.

Foto: Filmarchiv

Die Programme sind zwar seit 2008 aus den Kinos verschwunden, doch für eine treue Schar an Abonnenten werden sie von Wilfinger noch bis heute produziert. Auch alte Filme würdigt er mit neuem Glanz, unlängst hat er ein Heft zu Michael Curtiz’ Piratenfilm Captain Blood fertiggestellt. "Filme mit John Wayne und Gary Cooper gehen am besten", sagt Wilfinger – kein Wunder, der typische Sammler ist männlich und nicht mehr ganz jung.

In Erscheinung traten die Programme erstmals 1911, als die Stummfilme an Länge und damit an erzählerischer Dynamik gewannen. An Orten mit schillernden Namen wie dem Elektrotheater Ottakring gewährten sie dem Publikum Übersicht über mehrere "two-reelers", rund 20 Minuten lange Filme. Nicht nur als Souvenir beliebt, halfen die Hefte auch, Handlungen zusammenzufassen, an die das filmisch ungeübte Auge noch nicht gewöhnt war.

Gerade was die Stummfilmgeschichte anbelangt, gelten sie für Archive als wichtige Quelle für verschollene Arbeiten und die lokale Vorführpraxis. Und sie wissen über manche Vorlieben der Besucher zu erzählen, so Wilfinger. Manche hätten sich mit Notizen als Filmkritiker versucht. "Einer schrieb auf jedes Heft ,Schönheit:‘ und dann den Namen der jeweiligen Darstellerin."

Der erste Band der Publikation schlüsselt die frühe Programmgeschichte auf, die Wilfinger nicht nur aufgrund wechselnder Seriennummern einiges Kopfzerbrechen bereitete. "Im Buch sind viele Programme von Filmen enthalten, die kein Mensch mehr kennt." Auch die österreichische Zensur hatte ihre Hände im Spiel, entfernte Nackt- oder Gewaltdarstellungen aus Filmen – die Kontrolle der Programmhefte war ihnen jedoch der Mühe zu viel. "Deswegen sind darin oft fehlende Szenen beschrieben. Manche Kinobesitzer meinten, die Zuschauer verstehen den Film nicht, wenn sie nicht vorher das Programm lesen. Den Mord durfte man ja nicht zeigen."

Filmprogramm-Experte Herbert Wilfinger.
Foto: D. Kamalzadeh

Doch mit Filmprogrammen konnte man auch Verwirrung stiften, worüber ein eigenes Kapitel Aufschluss gibt. Im Thriller Sleuth gab es mit Michael Caine und Laurence Olivier nur zwei Darsteller, für das Heft wurden aber noch neue dazuerfunden, so Wilfinger, um die Spannung zu wahren. Legendär ist die "Zensur" im Nachkriegsdeutschland, die oft den politischen Hintergrund von US-Filmen überschrieben hat, auch in den Programmen. Conradt Veidt kam in Casablanca als Major Strasser "of the Third Reich" nicht mehr vor. "Aus Big Jim McLain mit John Wayne wurde Marihuana, dabei kommt im Original nicht ein Fuzerl Rauschgift vor."

Als Alternativtitel für sein voluminöses Werk hatte Wilfinger ursprünglich "Zettelwirtschaft" vorgeschlagen, was angesichts der vielen losen Enden gar nicht so verkehrt gewesen wäre. Als anekdotenreiches Kompendium bringt es nun, wo das Kino fehlt, seinen lange Zeit treuesten Begleiter nach Hause. (Dominik Kamalzadeh, 26.1.2021)