Demonstranten und Polizeieinheiten vor der Auflösung der Kundgebung.

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Mitschülerinnen und Mitschüler machten gegen die Abschiebung mobil. In der Nacht auf Donnerstag wurden die Familien dennoch außer Landes gebracht.

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Wien – Am Mittwochnachmittag war Tina noch in einem Fenster des Schubhaftzentrums in der Wiener Zinnergasse zu sehen. Ihre Klassenkolleginnen und -kollegen standen hinter einer Betonmauer, auf die ein Metallgitter gestülpt war, und winkten ihr zu. In der Nacht kam es zu Protesten gegen die Abschiebung von Tina und zwei weiteren Schülerinnen nach Georgien und Armenien. Seite an Seite demonstrierten Schüler und Politiker von SPÖ, Neos und Grünen – vergeblich. Die Sitzblockaden und aufgebauten Barrikaden wurden von der Polizei beseitigt, die Kinder abgeschoben. Für Tina ging es ins für sie unbekannte Georgien.

Die Grünen fühlen sich einmal mehr in Fragen von Asyl und Migration von ihrem türkisen Koalitionspartner in die Ecke getrieben. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) kritisierte die Abschiebung am Donnerstag erstmals offen in einer schriftlichen Stellungnahme: "Dass heute in den Morgenstunden gut integrierte Mädchen abgeschoben wurden, ist unmenschlich und unverantwortlich." Er verwies darauf, dass er, die grüne Klubobfrau Sigrid Maurer und der grüne Sozialminister Rudolf Anschober am Mittwoch intensiven Kontakt zu Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) gehabt hätten. Nehammer habe dem Grünen-Chef in "einem unserer Telefonate" sogar eine gründliche Prüfung der einzelnen Fälle zugesagt.

An der Abschiebung hat diese Zusage aber nichts geändert, und die Grünen bezweifeln auch, dass es die ÖVP überhaupt ernst gemeint hat. Denn auf ÖVP-Seite wurde zuvor stets auf die geltende Rechtslage verwiesen und auf die negativ beschiedenen Asylansuchen im Fall Tina. Gleichzeitig rückte ÖVP-Sicherheitssprecher Karl Mahrer aus, um die Abschiebungen zu rechtfertigen. "Ich frage mich auch, warum man sich für die Prüfung nicht mehr Zeit genommen hat", meinte Kogler.

Kogler: Keine rechtliche Verpflichtung zur Abschiebung

Die Fälle seien zwar auf Basis der österreichischen Gesetze ausjudiziert, die Abschiebungen seien jedoch nicht zwingend notwendig gewesen, betonte Kogler. "Wenn aber der Innenminister in den konkreten Fällen jetzt behauptet, er kann in dieser Rechtslage nicht anders handeln, dann kann ich nur sagen: Es gibt keine zwingende rechtliche Verpflichtung zur Abschiebung von Schulkindern, die hier in Österreich aufgewachsen sind und gut integriert sind. Das gilt besonders in Zeiten einer Pandemie."

Es bestehe "für uns alle" eine "politische Verpflichtung zur Menschlichkeit", so Kogler. "Diese Menschlichkeit sind wir den Mädchen schuldig, die heute mit polizeilicher Härte abgeschoben wurden, diese Menschlichkeit sind wir aber auch unserem ganzen Land schuldig." Die bestehenden Gesetze seien in der Vergangenheit ohne Zustimmung der Grünen beschlossen worden, so Kogler. "Sie zu ändern braucht Mehrheiten, um die wir uns seit unserer Gründung bemühen. Die sind aber derzeit im Nationalrat nicht gegeben."

Bürstmayr: Situation erinnerte an "Aniterroreinsatz"

Zuvor hatte bereits der grüne Asylsprecher Georg Bürstmayr, der in der Nacht mit drei weiteren grünen Abgeordneten bei der Protestaktion vor Ort dabei war, Kritik am Vorgehen geübt. Dieses sei "unverhältnismäßig" gewesen, das Bild vor Ort habe aufgrund der großen Polizeipräsenz fast an einen "Antiterroreinsatz" erinnert. Ob sich die Abschiebungen auf die Stimmung in der Koalition auswirken werden, wollte er nicht über die Medien besprechen. Der Anwalt hofft, dass sich solche Fälle nicht wiederholen. Eine Gesetzesänderung brauche es dafür nicht unbedingt. "Die Rechtsbestimmungen kann man auch liberaler auslegen", so Bürstmayr. Die Wiener Grünen sprachen von einer Nacht der "Unmenschlichkeit und Kaltherzigkeit".

160 Menschen versammelten sich in Wien-Simmering, um gegen die Abschiebungen zu demonstrieren.
DER STANDARD

Die Schwierigkeiten im Fall Tina

Der Völkerrechtler Ralph Janik sieht sich mit einem schweren Fall konfrontiert. Die zwölfjährige Tina ist in Österreich geboren, ging hier zur Schule, hier war ihr Lebensmittelpunkt. Nur zwei Jahre verbrachte sie in Georgien, als ihre Mutter mangels positiven Asylbescheids 2012 dorthin zurückkehren musste. Die Sozialisation der Kinder in Österreich sei ein gewichtiges Argument, sagt Janik. Dennoch wiege die Unterbrechung des Aufenthalts schwer – beziehungsweise dass die Mutter nie einen regulären wie dauerhaften Aufenthaltstitel in Österreich hatte. Ein Problem sei auch, dass die Familie keine weitere familiäre Bindung hierzulande habe. Der Vater verfügt über ein dreimonatiges Touristenvisum aus der Slowakei.

Vergleiche mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind schwierig – am ehesten noch mit der Causa Maslov gegen Österreich. Doch es gibt große Unterschiede: Der bulgarische Staatsbürger kam 1990 im Alter von sechs Jahren mit seinen Eltern und Geschwistern nach Österreich und hatte einen regulären Aufenthaltstitel. In jungen Jahren beging er Straftaten, verbüßte eine Haftstrafe, bekam ein zehnjähriges Aufenthaltsverbot auferlegt und wurde nach Sofia abgeschoben, als er volljährig wurde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befand, dass die Abschiebung gegen die Achtung des Privat- und Familienlebens nach der Europäischen Menschrechtskonvention verstieß, da er in Österreich aufgewachsen sei und keine Beziehungen zu Bulgarien habe.

Der Fall der zwölfjährigen Tina wurde nun besonders debattiert. Am Montagabend wurde sie mit ihren Eltern von der Fremdenpolizei in ein Abschiebezentrum gebracht. Die Gymnasiastin, die im ersten Wiener Gemeindebezirk die Schule besuchte, fand die Unterstützung von Lehrern und Mitschülern, die mit ihrer guten Integration und der Hochphase der Pandemie gegen die Abschiebung argumentierten und (wie im Fall einer weiteren, armenischstämmigen Schülerin im zehnten Bezirk) eine Petition starteten.

Behördenentscheidung vom September 2017

Im Innenministerium verwies man darauf, dass mehrere höchstgerichtliche Entscheide vorliegen, die eine Außerlandesbringung vorsehen. Die Familie der Zwölfjährigen befand sich demnach bereits seit vier Jahren unrechtmäßig im Land. Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem Asylverfahren festgehalten, dass die lange Aufenthaltsdauer nicht zuletzt wegen beharrlicher Nichteinhaltung der behördlichen Vorgaben gegeben sei.

Der grüne Abgeordnete Bürstmayr verwies darauf, dass die letzte Rückkehrentscheidung der Behörden schon ziemlich alt gewesen sei. Sie stammt dem Anwalt Wilfried Embacher zufolge aus dem September 2019. Man könne also davon ausgehen, dass sich seitdem eine wesentliche Änderung des Sachverhalts ergeben hat. Nach einem laut Embacher im Mai 2020 gestellten Antrag auf Bleiberecht sei aber nichts geschehen, bis dann die Abschiebung durchgeführt wurde.

Kritik von SPÖ und Neos

Heftige Kritik an den Abschiebungen äußerten SPÖ und Neos. "Als Mutter macht es mich fassungslos, dass gut integrierte Kinder aus ihrem Leben gerissen und in ein fremdes Land abgeschoben werden", schrieb SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner am Donnerstag auf Twitter. SP-Vizeklubchef Jörg Leichtfried sprach von einem "zutiefst zynischen und unmenschlichen Akt", mit dem "vom größten Regierungsversagen im Corona-Management und vom Versagen in der Terrorbekämpfung" abgelenkt werden solle. Man hätte diesen Familien "im Sinne des Kindeswohls" humanitäres Bleiberecht geben müssen.

In einer Aussendung vom Mittwoch fragten mehrere SPÖ-Abgeordnete, ob Kinderrechte nichts mehr zählten. Ebenso äußerte sich Neos-Mandatarin Stephanie Krisper, die am Donnerstag unter den Protestierenden vor der "Familienunterkunft Zinnergasse" war.

FPÖ will verkürzte Asylverfahren

Verständnis für die Abschiebungen äußerte hingegen FPÖ-Chef Norbert Hofer: "So schwierig solche Maßnahmen auch immer sind, aber in einem Rechtsstaat muss klar sein, wenn es kein Recht auf einen Aufenthalt in Österreich gibt, dann muss man auch diese Maßnahmen setzen." Wiens FPÖ-Chef Dominik Nepp forderte verkürzte Asylverfahren bei "chancenlosen Fällen". In eine ähnliche Kerbe schlug ÖVP-Sicherheitssprecher Mahrer. In Österreich geborenen Kindern den Zugang zur Staatsbürgerschaft zu erleichtern lehnte er ab. (jan, brun, 28.1.2021)