Bernardine Evaristo ist seit den 1980ern eine der Vorkämpferinnen des schwarzen Feminismus in Großbritannien. 2019 gelang ihr dank Booker Prize der große Durchbruch.

Foto: Jennie Scott

Amma ist Anfang 50, schwarz und lesbisch. Sie trägt Dreadlocks, afrikanischen Schmuck und silberne Sneakers. Als Theaterregisseurin hat sie sich die vergangenen 40 Jahre lang mit anarchischen feministischen Stücken durch die Off-Theater Londons gespielt. Doch heute Abend steht ihre erste Premiere am staatstragenden National English Theatre an – über lesbische Amazonen. Im Publikum wird auch Yazz (19) sitzen, Tochter von Amma und ihrem schwulen Freund Roland, die sie mit schlechtem Gewissen geboren hat, weil Mutterschaft dem damaligen Feminismus widerstrebte. Yazz dagegen spricht von Feministinnen nur mehr als "Feminazis". Sie glaubt an eine nichtbinäre Zukunft, einen allen geltenden Humanismus. Statt einer offenen Beziehung wie Amma will sie nur einen starken Mann.

So weit der Einstieg in Mädchen, Frau etc. von Bernardine Evaristo. 2019 hat sie mit dem Roman als allererste schwarze Autorin den renommierten Booker Prize gewonnen. In der Folge wurde das Buch die erste Nummer eins einer schwarzen Autorin in den britischen Bestsellerlisten. Das passt gut in ihre Biografie, ist Evaristo (62) doch seit den 1980ern eine Kämpferin des schwarzen Feminismus. Klett-Cotta hat noch in der Booker-Nacht zugeschlagen und sich die deutschsprachigen Rechte gesichert. Inzwischen erscheint das Buch in 35 Übersetzungen. Man darf es also einen der heißesten Titel der Saison nennen.

Als gehöre sie hinter den Servierwagen...

Einerseits zu Recht. Denn auf den 500 Seiten erzählt Evaristo die Biografien von zwölf schwarzen Frauen in Großbritannien im Alter von 19 bis 93 und entwirft so einen historischen Abriss über drei, vier Generationen.

Da ist etwa Carole, Anfang 30 und Finanzberaterin in einer großen Londoner Bank. Wenn sie morgens ins Büro hochfährt, denkt sie daran, dass der Kunde sie hoffentlich nicht so anschauen wird, als gehöre sie hinter den Servierwagen. Als Mädchen wurde sie gruppenvergewaltigt, was ihr fast die glänzende Schullaufbahn ruiniert hätte. Die nigerianischen Eltern hatten Carole extra einen englischen Vornamen gegeben, um ihr den ihnen verwehrten sozialen Aufstieg zu erleichtern. Dass sie ihre "wahre Kultur" verleugne, kränkt aber Mutter Bummi, als Carole nicht mehr traditionell mit den Fingern isst. Der Putzfrau Bummi ist auch ein eigenes Kapitel gewidmet.

Oder da ist Shirley, der wir erst als idealistischer Junglehrerin in einem multikulturellen Viertel Londons begegnen und die einige Berufsjahre später von den Umständen so zermürbt ist wie ihre ältere weiße Kollegin Penelope. Jedes Jahr sehnt sie nur den Sommer herbei, wenn sie sich auf Barbados im Haus ihrer Eltern erholt. LaTisha ihrerseits arbeitet seit dem Schulabbruch im Supermarkt und trichtert ihren Kindern von drei Vätern ein zu lernen. Megan lebt erst befreit als Transmann.

Vielfalt an Lebenswirklichkeiten

Ein lockerer Erzählton treibt die Geschichten flott voran. Statt Sätzen mit Punkten gibt es nur ineinanderfließende Absätze. Evaristo gräbt sich so auf je nur 30 Seiten tief in die Psyche ihrer Hauptfiguren. Zugleich erzählt sie aber aus der Vogelperspektive, indem sie resümierend und zeitraffend jede von ihnen an mehreren Stationen ihres Lebens besucht.

Ergebnis ist eine ungeheure Vielfalt an Lebenswirklichkeiten und -problemen. Dass die Frauen untereinander als Töchter und Mütter, Schülerin und Lehrerin, Freundinnen oder Geliebte verbunden sind, erlaubt der Autorin zudem, Konflikte – zwischen Generationen und Klassen, motiviert von Sorge, dem Willen zur Abgrenzung oder bloß Unverständnis – aus mehreren Perspektiven durchzuspielen.

Das ist fein gemacht. Andererseits bemüht sich Mädchen, Frau etc. so sehr um eine breite Palette seiner Exempel, dass man es teils pädagogisch und klischeehaft finden kann. Dennoch ist es wohl genau diese buchhalterische Fülle, die dem Band seine Wucht verleiht. (Michael Wurmitzer, 29.1.2021)