Boris Johnson beim Laborbesuch in Schottland.

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Stellt der Aufenthalt des Premierministers in einem Glasgower Impfzentrum den ganz normalen Besuch eines Regierungschefs dar, der sich beim medizinischen Personal bedanken will? Oder war Boris Johnson am Donnerstag auf einer "Rettungsmission fürs Vereinigte Königreich" vor den schottischen Nationalisten, wie es die PR-Fachleute der Downing Street vorab der Londoner Boulevardpresse gesteckt hatten? Jedenfalls betonte der konservative Engländer die Bedeutung der landesweiten, gemeinsamen Anstrengung: "Wir arbeiten zusammen, um das Virus zu besiegen."

Eine Umfrage hat zu Wochenbeginn bestätigt, was seit rund einem Jahr eine Befragung nach der anderen unabweisbar macht: Das Spaltungsvirus bleibt im britischen Norden extrem virulent. Dem Marktforscher Panelbase zufolge wollen es 49 Prozent der Schotten allein versuchen, 44 möchten an der mehr als 300 Jahre alten Union festhalten, sieben Prozent geben sich unentschlossen. Rechnet man Letztere ab, ergäbe sich eine Mehrheit von 52:48 Prozent für die Unabhängigkeit. Im vergangenen Jahr lag der Anteil schon bei bis zu 58 Prozent – mehr als die Umkehrung des Ergebnisses von 2014, als sich die Schotten mit 55:45 Prozent für den Verbleib im Königreich entschieden.

Regionalwahl in drei Monaten

Aus Unionistensicht noch alarmierender waren zwei andere Ergebnisse. Genau die Hälfte der Befragten plädiert für ein zweites Referendum binnen fünf Jahren. Und bei der Neuwahl des Regionalparlaments von Edinburgh, die in gut drei Monaten stattfinden soll, bleibt die Nationalpartei SNP unter Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon auf Kurs für die absolute Mehrheit.

Für diesen Fall hat die 50-Jährige eine zweite Volksabstimmung angekündigt, auch ohne Zustimmung der Zentralregierung. Johnson hat mitgeteilt, das Ergebnis von 2014 solle für 40 Jahre bestehen.

Sturgeon findet Johnsons Besuch unnötig

Die kühle Strategin bezichtigte den Besucher vorab der Feigheit: Johnson habe wohl "Angst vor der Demokratie", höhnte Sturgeon in Medieninterviews. Den Besuch des Kontrahenten in ihrer Heimatstadt stufte sie als unnötig ein; angesichts geltender Vorschriften im Kampf gegen Sars-CoV-2 sei sie darüber auch "nicht ekstatisch".

Das dürfte nur teilweise stimmen. Denn den Umfragen zufolge treibt jeder Auftritt des unbeliebten Engländers Sturgeon neue Anhänger zu. Bei den Schotten gilt Johnson mehrheitlich als unzuverlässig und trotz seines Titels als "Minister für die Union" uninteressiert an ihren Belangen, wie Professor John Curtice von der Glasgower Strathclyde-Universität konstatiert. Krass treten die Unterschiede zu Sturgeon in der Pandemie zutage: Nur 22 Prozent billigen dem Premierminister kluges Vorgehen gegen Covid-19 zu, der Wert für die Ministerpräsidentin liegt bei 61 Prozent.

Im beginnenden Wahlkampf setzen die Konservativen unter dem regionalen Chef Douglas Ross auf den Kampf gegen die Unabhängigkeit, wie erste Flugblätter nahelegen. Sie würden sich dadurch als "große Nischenpartei" positionieren, wundert sich der Sozialwissenschafter Jan Eichhorn von der Uni Edinburgh. Von wichtigen Politikfeldern wie Gesundheit und Schulen sei kaum die Rede.

Krise bei Labour

Vor einem noch größeren Dilemma steht die Labour-Party. Sie sucht nach dem oder der fünften Regionalvorsitzenden in sechs Jahren, die Edinburgher Fraktion ist tief zerstritten. Der Favorit Anas Sarwar setzt im Wahlkampf ebenso wie die Torys auf Verweigerung eines zweiten Referendums und droht dadurch im Schatten der Londoner Regierungspartei zu verschwinden.

Dabei bereiten beide Parteiführungen, sowohl Premier Johnson als auch Labour-Chef Keir Starmer, längst einen Kurswechsel vor. Sollten im neuen Edinburgher Parlament die Unabhängigkeitsbefürworter – neben der SNP auch die Grünen – eine absolute Mehrheit haben, werde man von der Maximalposition abrücken, heißt es hinter vorgehaltener Hand. (Sebastian Borger aus London, 28.1.2021)