So realistisch, dass man leicht getäuscht wird: Reborn-Puppen boomen in Zeiten sozialer Isolation. Sie können diese aber auch teilweise verstärken.

Foto: Jakob Pallinger

Sie sehen aus wie eine kleine Familie: Sam, Uli, Noe und Cosette. Eng aneinander liegen sie im Kinderbett, mit gestrickten Mützen, geröteten, samtweichen Wangen und rosa Schlafanzügen. Neben ihnen auf der Couch schläft Selina, eine Frühgeburt, mit rosa Haube und weißen Handschuhen. "Sind sie nicht entzückend?", sagt Ingrid Gattringer und nimmt eines der Babys auf den Arm, wiegt es sanft auf der Brust. Im Alter von 61 Jahren ist Gattringer wieder Mutter von Vierlingen geworden – ohne Schwangerschaft, nur mit ein paar Bestellungen aus dem Internet und viel Zeit und Hingabe. Nach einiger Zeit wird sie die Babys an eine neue Besitzerin verkaufen. Rund 500 Euro bekommt Gattringer dann für jedes ihrer Babys.

Gut, dass die Babys nicht echt sind, sonst wäre das alles illegal. Aber die Verwechslungsgefahr ist groß: Die sogenannten Reborn-Puppen sehen echten Babys täuschend ähnlich. Reborn, übersetzt "wiedergeboren", beschreibt den Prozess, wie aus kleinen Beinen, Armen und Gesichtern aus Vinyl, Farben, Mohair-Ziegenhaaren und Glasaugen möglichst realistische Babypuppen entstehen. Babypuppen, die so schwer und groß sind wie echte Babys, mit beweglichen Gliedmaßen und zarten Adern an den Schläfen, die nach Babyhaut duften und in einigen Fällen ihren Brustkorb heben und senken, so als würden sie atmen.

Erkennen Sie den Unterschied? Reborn-Puppen sollen so echt wie möglich aussehen.
Foto: Jakob Pallinger

Anleitungen auf Youtube

Der Trend, der ursprünglich aus den USA stammt, ist in den letzten Jahren zunehmend auch in Europa und Österreich eingezogen. Sucht man auf Youtube nach dem Begriff, stößt man auf tausende Videoanleitungen von Puppen-Besitzerinnen, die zeigen, wie sie die Babypuppen an- und ausziehen, waschen, ihnen die Windeln wechseln, mit ihnen spielen, reden und im Kinderwagen Spazierfahrten machen. Mehrere Millionen Menschen sehen sich die Videos regelmäßig an.

In Online-Videos kann man die tägliche Routine mit den Babypuppen mitverfolgen.
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"Es fasziniert mich, wie lebendig die Babys sind. Wie man sie in die Hand nehmen und jeden Körperteil bewegen kann", sagt Gattringer. 2007 ist die heute 61-jährige Pensionistin, die Mutter von drei erwachsenen Kindern ist und in Steyregg bei Linz lebt, zum ersten Mal auf die Puppen aufmerksam geworden. Im Internet hat sie nach einem Puppenwagen für ihren sechsjährigen Enkel gesucht und ist stattdessen auf die Reborn-Puppen gestoßen. Sie begann, Puppenteile, Augen, Haare und Farben zu bestellen, Fortbildungskurse zu besuchen und bei ihr zu Hause die Puppen herzustellen. Auf dem Küchentisch stehen jetzt Farbbehälter, Gläser, gefüllt mit Gummikugeln – "für den Babyspeck", erklärt Gattringer – und kleine Babyarme und -beine, aufgesteckt auf hölzernen Stäben.

Ingrid Gattringer mit einem der "Babys" in ihrem Haus. Die 61-Jährige sagt, sie ist von den Puppen "fasziniert".
Foto: Jakob Pallinger

Detailgenaue Arbeit

Die Arbeit ist künstlerisch. Gattringer malt die Puppen mit drei bis vier Schichten Farbe an, mischt dafür Rot, Blau, Lila und Gelb zusammen, brennt die Schicht im Ofen ein, sticht jedes einzelne Haar mit einer Nadel durch den Plastikkopf, setzt die Augen ein und kauft passendes Gewand. 40 bis 80 Stunden ist Gattringer mit jedem Baby beschäftigt. Dann verkauft sie die Puppen online oder, wie vor Corona, auf Ausstellungen und Märkten.

Es ist eine akribische Arbeit, die Puppen so echt wie möglich aussehen zu lassen. 40 bis 80 Stunden braucht Gattringer für jedes Baby.
Foto: Jakob Pallinger

Anfragen für neue Puppen habe sie genug – ausschließlich von Frauen, manche in ihrem Alter und jünger, aber auch von Seniorinnen, von Müttern und Frauen ohne Kindern. "Die Interessen sind sehr verschieden", sagt Gattringer. Manche würden die Puppen lediglich als Dekoration verwenden, für andere seien sie durchaus ein Kinderersatz. Immer wieder bekomme sie von Müttern Fotos von deren Kindern zugeschickt, die sie dann möglichst echt nachbauen soll. "Die eigenen Kinder wachsen eben so schnell aus", sagt Gattringer.

Einsamkeit reduzieren

Ist das alles nur Spinnerei oder durchaus nachvollziehbar? "Die Puppen können der Wunsch sein, Emotionen, Beziehungen, Rollen und Konflikte zu simulieren", sagt Matthias Herzog, Psychotherapeut und Wissenschaftler an der Universität Wien. Dadurch soll eine Brücke zwischen echter und virtueller Welt entstehen, die sich im Vergleich zum echten Leben besser kontrollieren und formen lässt. Aber die Puppen sollen auch ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln und Einsamkeit reduzieren, so Herzog.

Gerade in unsicheren Zeiten, wie aktuell in der Pandemie, steige das Bedürfnis nach Geborgenheit sowie der Wunsch, kurzzeitig in andere Welten einzutauchen. Das sei grundsätzlich nichts Negatives. "Puppen gibt es in allen Kulturen, und sie werden auch in der Therapie eingesetzt." Der Gegenstand beziehungsweise das Objekt dient dabei als eine Art Kommunikationsmittel, das den inneren Monolog des Besitzers erweitert, der so Lösungen erarbeiten kann. "Puppen können anfangs helfen, mit Trauer und schwierigen Erlebnissen besser umzugehen", sagt Herzog.

Kein Baby-Ersatz

Diese "Zwischenwelt" könne aber auch problematisch werden – nämlich dann, wenn sich Menschen von der Umwelt zurückziehen und den Kontakt zu Mitmenschen meiden. Eine Puppe könne einen Trauerprozess, wie beispielsweise nach dem Verlust eines Kindes, nie ersetzen, so der Experte. Dazu brauche es in einigen Fällen vor allem eine professionelle Unterstützung. "Auch den Wunsch, ein eigenes Kind zu haben, wird eine Babypuppe nicht nachhaltig erfüllen können."

Ohnehin scheinen viele Menschen den realistischen Puppen meist eher skeptisch gegenüberzustehen. Abseits der wachsenden Online-Community und Online-Shops gibt es kaum Kaufhäuser, die die Reborn-Puppen in der Auslage präsentieren. Zu echt, zu lebendig, zu makaber, so die Reaktionen.

Verwechslungsgefahr

Das hat auch Gattringer erlebt. "Natürlich gibt es immer wieder Leute, die abgeschreckt sind und sagen, die Puppen sehen aus wie tote Babys." Einige Male schon sei es zu Verwechslungen gekommen – etwa am Weihnachtsmarkt, wenn Menschen die Puppen für echte Babys hielten und Alarm schlugen, weil sie dachten, diese würden mangels Kleidung erfrieren.

Ähnliche Fälle ereigneten sich im Ausland. 2016 verständigten Passanten in New Hampshire in den USA die Polizei, als sie ein scheinbar echtes Baby auf dem Rücksitz eines abgesperrten Autos entdeckten, das Gefahr lief, an einem Hitzetod zu sterben. Ein Polizist brach wenig später die Fenster des Wagens auf und startete mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung. Erst da fiel ihm auf, das mit dem Baby etwas nicht stimmte und es sich um eine Puppe handelte.

Verwendung in Altersheim

Aber der Realismus der Puppen kann auch nützlich sein. Seit 2018 verwendet eine Entbindungsstation in Moskau die Puppen, um Studenten auf die medizinische und gesundheitliche Behandlung von Babys vorzubereiten. Einige Alten- und Pflegeheime wiederum stellen sie demenzkranken Bewohnern zur Verfügung, die für die Menschen als Begleiter und Gesprächspartner dienen sollen.

Gattringer sagt, sie behandle ihre Puppen nicht wie echte Babys. "Selbst eine Puppe, die ausschaut wie ein echtes Baby, bleibt für mich eine Puppe." Für sie ist das Interesse von erwachsenen Frauen an den Puppen weder außergewöhnlich noch problematisch. "Einige Männer spielen ja auch mit der Eisenbahn. Für andere sind es eben die Puppen." (Jakob Pallinger, 31.01.2021)