Die Forschungscommunity müsse sich mit dieser Frage auseinandersetzen, fordert die Allgemeinmedizinerin Susanne Rabady im Gastkommentar.

Wilfred Druml, Professor an der Medizinischen Universität Wien, ist dafür zu danken, mit seinem Gastkommentar zu "Mullbinden und Masken" eine längst überfällige Diskussion angestoßen zu haben.

Die Verantwortung der Wissenschaft ist immer hoch – in der Krise aber noch höher.
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Für eine Reihe von Wissenschaftern ist es Usus geworden, sich, ihren Status und ihre akademische Position nutzend, zu allen möglichen Fragen zu äußern, über die sie nicht wissenschaftlich gearbeitet haben, und sehr rasch gewonnene Meinungen mit großer Überzeugung öffentlich zu äußern.

Beispiel Sönnichsen

Diesen Wissenschaftern ihre wissenschaftliche Kompetenz aber grundsätzlich abzusprechen greift, denke ich, zu kurz und hilft nicht dabei, zu verstehen, warum an und für sich hochqualifizierte Forscher und Methodiker nicht nur ihr Fachgebiet verlassen, sondern auch das wissenschaftsethisch begründete Vorgehen an sich.

Professor Andreas Sönnichsen wird im Gastkommentar namentlich genannt: Dessen Berufung an die Med-Uni Wien ist aber nicht, wie postuliert, unverständlich, sondern erfolgte nach den üblichen Regeln und zu Recht. Er ist hochqualifiziert in seinem Fach: der Allgemeinmedizin und Primärversorgung, er ist ein exzellenter Methodiker und hat als solcher wichtige Beiträge geleistet.

Meinungen, nicht Wissen

Die entscheidende Frage ist: Wie kommt es, wie kann es geschehen, dass sich eine ganze Reihe bis dato anerkannter Wissenschafter verleiten lassen, ihre eigene Kompetenz zu missachten, die anerkannte und ihnen wohlvertraute, wenn auch mühselige wissenschaftliche Methodik zu verlassen? Die stattdessen blitzartig und reflexhaft auf eine breite Palette von Fragestellungen reagieren und lautstark Antworten geben – die mehr nach Meinungen, Überzeugung und Ideologien klingen als nach geprüftem, reflektiertem Wissen?

Eine weitere nicht unwesentliche Frage ist, wie es kommt, dass ihnen von zahlreichen, auch seriösen, Medien breiter Raum gegeben wird, ohne dass man sich davon überzeugt, dass genau dieser Wissenschafter über genau die gefragte Expertise verfügt, die ihn dazu legitimiert, sich öffentlich als Experte zu äußern. Das wäre ein wertvolles Korrektiv.

Große Verantwortung

In Zeiten, wo der Einfluss von Expertise auf politische Entscheidungsfindung notwendigerweise groß sein muss, muss man sich wissenschaftsethischen und -psychologischen Fragen stellen. Die Verantwortung von Wissenschaft ist immer hoch. Jetzt gilt das noch um vieles mehr, denn öffentlich geäußerte und als solche rezipierte Expertise beeinflusst nicht nur Entscheidungen, sondern auch das Verhalten von Menschen und über beides ganz konkret den Verlauf der Pandemie. Für die Wissenschaft ist so viel unmittelbarer Impact ungewohnt – und offenbar auch durchaus reizvoll. Die Wissenschaftscommunity muss sich damit auseinandersetzen, genauso wie die mediale Öffentlichkeit. (Susanne Rabady, 29.1.2021)