Das zerstörte Zelt, wie es der Suchtrupp 1959 vorfand. Die neun Leichen fanden sich außerhalb des Zelts und wiesen zum Teil sehr ungewöhnliche Verletzungen auf.

Djatlow-Gedächtnisstiftung, gemeinfrei

Das Unglück vom Djatlow-Pass, das sich fast auf den Tag genau vor 62 Jahren ereignete, forderte zwar "nur" neun Tote. Doch die rätselhaften Umstände der Tragödie ließen diese zu einem der größeren Rätsel in der Geschichte der Sowjetunion werden, um das sich bis heute in Russland zahllose Mythen und Verschwörungstheorien ranken, vom mörderischen Yeti bis hin zu militärischen Geheimexperimenten. Denn die wahrscheinlichste Erklärung – ein Lawinenabgang – scheint aus verschiedenen Gründen ausgeschlossen.

Doch was war vor 62 Jahren in der völligen Abgeschiedenheit des nordöstlichen Uralgebirges geschehen, hunderte Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt? Am 27. Jänner 1959 brach eine zehnköpfige Gruppe erfahrener Skitourengeher, überwiegend Studierende des Polytechnischen Instituts des Uralgebiets, zu einer über zweiwöchigen Expedition auf. Die Tour sollte die Gruppe, die unter der Leitung des 23-jährigen Igor Djatlow stand, zum Berg Gora Otorten führen.

Ein einziger Überlebender

Bei Temperaturen bis zu minus 30 Grad Celsius war das Unterfangen zu dieser Jahreszeit äußerst anspruchsvoll. Bereits eine Tag nach Beginn der Expedition kehrte Juri Judin, einer der Expeditionsteilnehmer, aus Krankheitsgründen um. Er sollte seine Begleiter nie wiedersehen.

Gedenkstein für die neun Opfer vom Djatlow-Pass in Jekaterinburg.
Foto: Djatlow-Gedächtnisstiftung, gemeinfrei

Als die Gruppe auch mehrere Tage nach ihrer geplanten Rückkehr nicht an ihrem Ausgangspunkt, dem Dorf Wischai, auftauchte, machte sich ein Rettungstrupp auf die Suche. Am 26. Februar wurden die Bergretter fündig: Am Hang des Cholat Sjachl ("Berg des Todes", gut 20 Kilometer südlich vom Ziel der Expedition) stießen sie auf das schwer beschädigte Zelt sowie die Ausrüstung. Die genauen Umstände waren aber rätselhaft.

Mysteriöse Umstände

Das Zelt war nämlich von innen geöffnet worden, und im Zelt fehlten die Leichen. Zwei davon entdeckte man bergab, an einem Baumstamm. Sie waren nur mit Unterwäsche bekleidet. Zwischen Baum und Zeltplatz fand der Suchtrupp die toten Körper dreier weiterer Teilnehmer, darunter Djatlow, nach dem später der Pass benannt wurde. Die Überreste der vier anderen Teilnehmer wurden zwei Monate später in einer Schlucht entdeckt. Einige Leichen wiesen schwere Verletzungen wie Frakturen am Schädel und im Brustbereich auf, die untypisch für Lawinen sind.

Die sowjetischen Behörden untersuchten die rätselhafte Katastrophe, stellten die Ermittlungen jedoch nach drei Monaten mit dem Ergebnis ein, dass "höhere Gewalt" zum Tod der Expeditionsteilnehmer geführt habe. Das Gebiet wurde zudem für drei Jahre gesperrt – was die Spekulationen weiter anheizte. All das machte in den folgenden Jahrzehnten das Unglück vom Djatlow-Pass zum kollektiven und popkulturellen Mythos – sowie zum Gegenstand mehrerer meist hochspekulativer Bücher, Dokumentationen, (Horror-)Filme und sogar eines Computerspiels.

Neue Ermittlungen

2019 nahm die russische Generalstaatsanwaltschaft auf Bitte der Hinterbliebenen die Ermittlungen in dem gleich rätselhaften wie populären Fall wieder auf und kam zu dem Schluss, dass vermutlich eine Lawine die Schlafenden überrascht hat. Angesichts der dürftigen Beweislage sowie einiger Ungereimtheiten bleiben viele Russen allerdings skeptisch.

Gegen die Lawinentheorie spricht nämlich einiges: Das Gelände, in dem sich das Unglück ereignete, ist weniger als 30 Grad steil – und 30 Grad gelten als Schwellenwert für Lawinenabgänge. Zudem hat es in der Nacht, in der das Unglück geschah, nicht geschneit. Und von einer Lawine fehlte beim Auffinden der Leichen jede übliche Spur.

Zwei Experten aus der Schweiz

Ebenfalls 2019 stieß Johan Gaume, Forscher an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) und Leiter des Labors für Schnee- und Lawinensimulation, eher durch Zufall auf das Unglück vom Djatlow-Pass. Der Lawinenexperte Gaume war von einer Journalistin der "New York Times" zur Lawinentheorie befragt worden, konnte ihr aber keine Auskunft geben, da er mit der Materie nicht vertraut war.

Doch er fing sofort Feuer. "Gleich nach dem Anruf kritzelte ich eine Reihe Gleichungen und Zahlen an die Tafel, um aus rein mechanischer Sicht den möglichen Ablauf der Ereignisse zu skizzieren", sagt Gaume, der sich in den Fall zu vertiefen begann, der – wie er selbst sagt – zu seinem bisher spannendsten Forschungsprojekt werden sollte.

Zur Klärung des Rätsels nahm er mit seinem aus Russland stammenden Kollegen Alexander Puzrin Kontakt auf, einem Geotechniker der ETH Zürich, der zwei Jahre zuvor mit der Arbeit an Schneebrettlawinen begonnen hatte. Zudem ist Puzrin Erdrutschexperte und untersucht, was genau passiert, wenn es zu Zeitverzögerungen zwischen dem Auslöser und dem tatsächlichen Abgang eines Erdrutschs kommt. Beides half, um die offenen Fragen rund um die Lawinentheorie zu beantworten.

Offene Fragen der Lawinentheorie ...

"Einer der Hauptgründe, warum diese Theorie umstritten ist, liegt darin, dass die Behörden den genauen Ablauf nicht erklären konnten", so Gaume. Tatsächlich spricht auch einiges gegen eine Lawine – wie eben die relative Flachheit des Geländes. Zudem fand der Suchtrupp weder eindeutige Beweise für eine Schneebrett noch deren Überreste. Und wenn es eine solche Lawine gegeben hat, dann ging diese mindestens neun Stunden nach dem Anlegen des Zeltplatzes ab, was ebenfalls klärungsbedürftig ist.

... und ihre Beantwortung

In ihrer neuen Studie, die im Fachblatt "Communications Earth & Environment" der Nature-Springer-Verlagsgruppe erschien, können Gaume und Puzrin die offenen Fragen beantworten – sowohl in der Theorie wie auch in der Praxis.

Die beiden Forscher aus der Schweiz erläutern ihre Schneebretttheorie.
EPFL

So beweisen sie mithilfe von Daten zur Reibung zwischen Schneeschichten und der lokalen Topografie, dass eine kleine Schneebrettlawine sehr wohl auf einem flacheren Hang abgehen kann, ohne große Spuren zu hinterlassen. Anhand von Computersimulationen zeigen sie zudem, dass eine Schneebrettlawine ähnliche Verletzungen wie die hervorrufen kann, die an einigen der Toten gefunden wurden.

Schließlich können sie auch noch die Zeitdifferenz zwischen dem Anschnitt des Hangs für den Zeltaufbau und dem Abgang der Lawine erklären. Die früheren Ermittlungen konnten sich nämlich keinen Reim darauf machen, wie mitten in der Nacht eine Lawine ausgelöst werden kann, wenn es am Abend davor nicht geschneit hat.

Katabatische Winde als Erklärung

Einer der wichtigsten Faktoren in der Nacht der Tragödie waren laut Gaume und Puzrin sogenannte katabatische Winde. Das ist kalte Luft, die unter dem Einfluss der Schwerkraft hangabwärts weht. Diese Winde dürften Schnee verfrachtet haben, der sich dann aufgrund eines bestimmten Geländemerkmals, das der Gruppe nicht aufgefallen war, oberhalb des Zelts ansammelte.

Skizze des Zelts und des Schneebretts, das sich löste und für die eigenartigen Verletzungen von einigen der neun Tourengeher sorgte.
Grafik: Gaume und Puzrin

"Hätten sie den Hang nicht angeschnitten, wäre nichts passiert. Das war der Initialauslöser, hätte allein aber nicht ausgereicht," erklärt Gaume. Wahrscheinlich verfrachteten die katabatischen Winde den Schnee, der sich langsam aufhäufte. "Irgendwann bildete sich dann möglicherweise ein Riss und breitete sich aus. Und am Ende ging ein Schneebrett ab", erläutert Puzrin.

Dennoch betonen beide Forscher, dass dieses Unglück in weiten Teilen ein Rätsel bleibt. "Tatsache ist, dass niemand wirklich weiß, was in dieser Nacht geschah", sagt Puzrin und bezieht sich dabei darauf, was die neun Tourengeher nach dem Abgang des Schneebretts genau machten. "Aber wir haben starke quantitative Beweise, die die Lawinentheorie untermauern." (Klaus Taschwer, 29.1.2021)

Einer der wenigen seriösen Dokumentarfilme, die sich auf Youtube über das Unglück finden. Hier werden weitere rätselhafte Begleitumstände wie radioaktiv verseuchte Kleidungsstücke schlüssig erklärt.
LEMMiNO