Murat Özçelik studierte Neurobiologie, leitet heute aber das Wiener Architekturbüro Wunschhaus. So ungewöhnlich wie sein Werdegang ist auch sein Umgang mit Formen, Farben, Reizüberflutungen.

"Ich wollte immer schon eine Art Diwan haben, eine Mischung aus Orient und Freud, wiewohl ich auf diesem Möbel trotz meines Faibles für Analysen noch nie eine analytische Sitzung genossen habe. Das Zimmer, in dem ich mich gerade befinde, ist das orientalische Zimmer. Ein Glück, dass wir überhaupt eine Wohnung gefunden haben, wo dieses Sofa in seiner vollen Form und Pracht hineingepasst hat! Meistens sucht man ja das Sofa passend zum Wohnzimmer aus. Bei uns war es umgekehrt. Ich weiß, das klingt verrückt und dekadent, ist es auch, aber im Zweifelsfall bevorzuge ich die Wahrheit.

Rund um das Sofa wurde die passende Wohnung gesucht: Murat Özçelik in seiner Wohnung in Wien.
Foto: Lisi Specht

Warum orientalisch? Als ich mit meinen Eltern im Sommer immer in die Türkei gefahren bin, ans Schwarze Meer, in die gleiche Gegend übrigens, aus der auch Diogenes stammt, aber das liegt noch länger zurück als meine Kindheit, haben wir meist in sehr einfachen Holzhäusern gewohnt, mit genau solchen Farben, genau solchen Stoffen. Ich denke, dieses Zimmer ist eine Anknüpfung an meinen kulturellen Hintergrund. Wenn schon Ornament, dann aber richtig! Daher haben wir das Zimmer mit einer echt argen Tapete tapeziert. Drei Euro pro Rolle! Unglaublich, oder? Das zwickt und beißt sich alles, man könnte auch Reizüberflutung dazu sagen, aber das ist mir allemal lieber als ein weißer Zwangsjackenraum, wie man ihn in den Wohnzeitschriften vorfindet.

Ich brauche viele Reize um mich herum. Je mehr, desto besser. Mich strengt das nicht an, ganz im Gegenteil, mich beschäftigt das im positiven Sinne. Wenn ich zu wenige Reize habe, ob das nun visuelle, akustische oder intellektuelle Reize sind, dann wird mir schnell langweilig. Meine Frau sagt immer, dann werde ich unausstehlich. Mit Reizüberschuss hingegen bin ich gut drauf und sozial mehr als verträglich. Daher ist auch der Rest der Wohnung nicht gerade schlicht, sondern auch irgendwie sehr bunt, sehr barock, sehr gestreift.

Bunt, barock, gestreift: Murat Özçelik braucht die visuelle Abwechslung um sich.
Fotos: Lisi Specht

Das mit der Langeweile war immer schon so. Bei einem Malewitsch, bei einem Kandinsky, bei einem Yves Klein wird mir echt schnell fad, obwohl ich die Sachen toll finde und sie gerne ein paar Sekunden lang anschaue. Aber dann? Ich brauche einen Hieronymus Bosch, ein richtiges Wimmelbild mit tausenden Wimmelszenen. Daher hängen hinter mir auch ganz viele Kupferstiche und osmanische Miniaturen, viele kleine Wimmelbilder mit ganz viel türkisch-arabischer Wimmelschrift aus der Zeit vor Atatürk.

Wir haben zwei Wohnungen: Ich wohne in Wien, meine Frau wohnt in Zürich, und wenn grad nicht Lockdown ist, pendeln wir hin und her. Wir haben uns lange überlegt, ob wir zwei halbe Wohnungen oder doch lieber eine ganze Wohnung haben wollen – letztendlich haben wir uns für zwei ganze Wohnungen entschieden. Das ist die Murat-Logik.

Viel zu sehen: "Je mehr, desto besser! Mich strengt das nicht an, ganz im Gegenteil,
mich beschäftigt das im positiven Sinne", sagt Murat Özçelik.
Fotos: Lisi Specht

Die Wohnung liegt im ersten Bezirk, Nähe Stubentor. Die Innenstadt hat nicht nur geografische, sondern vor allem auch atmosphärische Gründe. Viele Häuser, viele Menschen, viele Schriften in der ganzen Stadt. Genug zum Lesen und Analysieren die ganze Zeit, ohne dass sich mein Auge allzu schnell daran fertigschaut.

Ich gebe zu: Manchmal reicht es mir auch mit dem Schauen und permanenten Analysieren rundherum. Aber dazu wurde ja die Nacht erfunden, in der man eh nix sieht, weil’s stockfinster ist. Nur dauern die Nächte – vor allem jene im Winter – für meinen Geschmack, wie man sich vorstellen kann, halt etwas zu lang. Deswegen ist mir der Sommer lieber.

Wo die Nächte überhaupt nicht dunkel sind, das ist Tokio. In Tokio gibt es rund um die Uhr viel zu schauen. Tokio ist meine Lieblingsstadt. In Tokio würde ich gerne leben. Das Gegenteil, nämlich meine ganz persönliche Hölle, wäre eine asketische Wohnung mit weißen Wänden und schlichten, skandinavischen Möbeln. Ich würde vor Langeweile sterben. Das wäre schade, denn es gibt noch so viel zu sehen." (1.2.2021)