Ursula Wiegele steht für eine geradlinige Erzählweise. Ihre Romane empfehlen sich als gültige Zeitdokumente, aber auch als eindrückliche Literatur.

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Ursula Wiegele ist eine unauffällige Autorin, sie schreibt keine dicken Romane und verliert sich nicht im Ausufernden der Worte. In ihrem vorletzten, 2019 erschienenen Roman fällt ihre geradlinige Erzählweise und verknappende Sprache geradezu auf, denn gemessen an der Dynamik des Schauplatzwechsels und der komplexen Handlung hätte Was Augen hat und Ohren genauso gut 400 Seiten haben können, der Protagonist, ein rumänischer Schauspieler, hätte darin Raum genug gefunden, um die eigene Geschichte auch atmosphärisch ausgeleuchtet zu bekommen.

Bogdan Marinescu hat am Nationaltheater in Temesvar noch den Hamlet gespielt, dann wurde er von der Securitate abgeholt, verhört, wieder freigelassen, neuerlich bedroht. Um weiteren Repressionen zu entgehen, vor allem weil er kein Spitzel des Geheimdienstes werden wollte, hat er das Land verlassen. Zwanzig Jahre später, lange nach der Wende, ist er zurückgekehrt und zum Star eines privaten Fernsehsenders avanciert, dem im Zeitalter des Reality-TVs nichts zu blöd sein darf, will er seinen Job behalten.

Inszenierung und Wirklichkeit

Der Held in Ursula Wiegeles drittem Roman ist eine Art Wiedergänger, und auch das Rumänien nach Ceaușescu hat seine wiederkehrenden Strukturen, denn der Chef des Fernsehsenders ist jener ehemalige Geheimdienstoffizier, der Bogdan damals verfolgt hat. Jetzt ist er ein schwerreicher Oligarch, der den Immobilienmarkt ebenso wie die Unterhaltungsindustrie kontrolliert, vor allem kontrolliert er Bogdan.

Ursula Wiegele, "Was Augen hat und Ohren". 22,– Euro / 208 Seiten. Otto Müller, Salzburg/Wien 2019
Cover: Otto Müller Verlag

Für eine Realityshow mit versteckter Kamera schickt er seinen Talkmaster quer durch Italien, er soll dort jeweils aufsehenerregende Szenen aus berühmten italienischen Filmen nachspielen, und zwar so, als würden diese wirklich geschehen. Bogdan erfährt immer nur kurzfristig von seinen Einsätzen, er weiß nie, wo die Kameras postiert sind, und bald ist er sich auch nicht mehr sicher, was nun Inszenierung und was Wirklichkeit ist.

In diesem Kontext wird der Protagonist auch mit seinem früheren Leben konfrontiert, das Politsystem aus der Vergangenheit schlägt immer wieder durch, das sind keine zufälligen Begegnungen, da wird ein übles Spiel mit ihm getrieben, und Bogdan, der einst vor der Diktatur geflohen ist, der sich auch jetzt überall beobachtet und bespitzelt fühlt, ist sich bewusst, mit diesem Engagement seine Unabhängigkeit bereits verloren zu haben, mehr noch, er ist auch dabei, seine Würde und seine Wirklichkeit zu verlieren.

Abgründige Social-Media-Welt

Als ihn sein nächster Auftrag an den Gardasee führt, wird endgültig eine rote Linie überschritten. Pasolinis Die 120 Tage von Sodom werden zur abgründigen Vorlage einer Ekelszene: An der Leine einer jungen Frau muss Bogdan vor einem Hotel auf und ab laufen. "Du musst bellen, winseln, hecheln", sagt sie, "und das auflecken." Dabei zeigt sie auf "ein Häufchen, das aussieht wie Kot", auch wenn es nur Nutella ist, aber das weiß außer den Filmleuten niemand.

Doch es geht nicht bloß um Auswüchse heutiger Unterhaltungsmedien. Was Augen hat und Ohren ist eine eindringliche Parabel auf Macht, Kontrolle und Mediengeilheit, wobei die Lust an der Macht mit Demütigung einhergeht, Strukturen, die die Diktatur überlebt haben und heute in gnadenlosem Fernsehtrash und einer abgründigen Social-Media-Welt ihren Ausdruck finden.

Am Ende läuft der Protagonist noch einmal davon, die Schauplätze wechseln erneut, ganz zuletzt bildet die Abgeschiedenheit einer ostfriesischen Insel einen klugen Kontrapunkt zum lauten, konfrontierenden Roadtrip durch Italien.

Riss durch die Familiengeschichte

Ursula Wiegele, "Arigato". 22,– Euro / 195 Seiten. Otto Müller, Salzburg/Wien 2020
Cover: Otto Müller Verlag

Italien spielt auch in Wiegeles viertem Roman Arigato eine Rolle, anlassgebend ist das Erdbeben im Friaul 1976. Weil das Haus von Veras Familie zerstört wurde, kommt das 14-jährige Mädchen zu Verwandten nach Villach. Also Familiengeschichte, die auf beiden Seiten der Grenze spielt: Veras Mutter stammt aus einer deutschsprachigen Familie im Kanaltal, das bis 1918 österreichisch war, danach rücksichtslos italianisiert wurde. Wer die Muttersprache nicht aufgeben wollte, musste eben gehen. Das haben Onkel Hans und Tante Rosa gemacht, als sie 1939 für das Deutsche Reich optierten.

Und nun kommt die "halbitalienische Verwandte" zu ihnen, wie der Onkel sie nennt. Manchmal sagt er auch "Mischling", das gehört zu seinem "Geschichtsunterricht", der nur eine Tendenz kennt: Die Italiener sind "Feiglinge", "Verräter", ein "faules Pack".

Man sieht schon, da geht ein Riss durch die Familiengeschichte, der genau an der Bruchlinie zwischen italienischem und deutschem Nationalismus verläuft, und das bis in die Gegenwart: Das Erdbeben im Friaul, so Onkel Hans, sei die späte Strafe für den Verrat der Italiener 1915 …

Von den Gräben der Geschichte versteht Vera nur wenig, und doch wächst in ihr das deutliche Gefühl der Zugehörigkeit zu Italien, je bornierter der Onkel darauf besteht, ihre "altösterreichische" Herkunft bzw. "volksdeutsche" Hälfte über die italienische zu stellen. Umso mehr positioniert sich Vera gegenüber dem Onkel, der kein geeigneteres Modell abgeben könnte für den heimischen Spießer im Kärntner Anzug.

Kleinbürgerliche Verfasstheit

Ursula Wiegele hat diese kleinbürgerliche Verfasstheit sehr anschaulich herausgearbeitet und auch die österreichischen Siebzigerjahre überzeugend abgebildet. Am besten kommt das in jener Szene zum Ausdruck, in der Onkel Hans nach der Zeit im Bild die Wohnung verlässt. Vorher hat er noch den Fernseher ausgeschaltet, das "Fernseher-Kästchen" abgesperrt und den Schlüssel mitgenommen.

Dabei kommt nach den Nachrichten eine neue Folge der Fernsehserie Onedin-Linie, auf die sich die Tante und Vera schon die ganze Woche über gefreut haben. Aber was nützt das: "Onkel Hans mag die Engländer nicht", die hätten nach dem Krieg Kärnten besetzt … Stattdessen wird es ein fernsehloser Damenabend mit Eierlikör.

Die Alltagsbilder dieses kleinkarierten Milieus verknüpft die Autorin gekonnt mit den großen Themen Heimat, Herkunft, Identität und hebt so den Roman weit über eine subtile, mitunter skurrile Milieustudie hinaus.

Wie geradlinig, wie selbstverständlich sie dieses Atmosphärische beschreibt und in ihrer Protagonistin eine neue, die familiäre und nationale Kluft überwindende Sicht sich entwickeln lässt, ist beeindruckend und empfiehlt ihren Roman als gültiges Zeitdokument, aber auch als eindrückliche Literatur.

Und auch hier gilt, was für den vorhergehenden Roman zutrifft: Ursula Wiegele setzt ihre sprachlichen Mittel sehr sparsam und diszipliniert ein, auch wenn die Souveränität auf Kosten der Atmosphäre geht, wie man sie von Romanen nun einmal gewohnt ist. Das breite Erzählen ist nicht Sache der Autorin, genau damit vermag sie zu überzeugen: mit der Schlichtheit des Überschaubaren und dennoch Tiefgründigen. (Gerhard Zeillinger, 31.1.2021)