Eingriffe in die persönliche Freiheit sind in Österreich seit dem ersten Lockdown vor knapp einem Jahr im Bewusstsein der breiten Bevölkerung angekommen. Auch, dass vor allem alte Menschen in Alters- und Pflegeheimen davon wesentlich massiver betroffen sind als jene in Privathaushalten, taucht als Thema medial immer wieder auf. Übersehen wird dabei, dass Freiheitsbeschränkungen in Einrichtungen für alte Menschen, aber auch für Kinder oder erwachsene Frauen und Männer mit Behinderungen ebenso abseits von Corona in beachtlichem Umfang stattfinden. Ausführlich berichtet darüber das kürzlich im ÖGB-Verlag erschienene Buch „Bewegungsfreiheit im Heimalltag für Jung und Alt“. Den Hintergrund dafür stellt das seit Juli 2005 in Österreich geltende Heimaufenthaltsgesetz (HeimAufG) dar. Dieses Gesetz schützt das Grundrecht auf persönliche Freiheit in Pflege- und Betreuungseinrichtungen und regelt, ob im begründeten Einzelfall freiheitsbeschränkende Maßnahmen zulässig sind. Zu solchen Maßnahmen zählt beispielsweise eine Person einzusperren, sie festzuhalten und am Weggehen zu hindern, eine Person an einem Stuhl zu fixieren oder mit Medikamenten so ruhig zu stellen, dass sie sich nicht mehr bewegen kann.

Kontrolle durch Bewohnervertretung

Für die Umsetzung des HeimAufG wurde in Österreich die sogenannte Bewohnervertretung bundesweit aufgebaut. An sie müssen alle Einrichtungen, in denen mindestens drei Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen beziehungsweise psychischen Beeinträchtigungen leben oder untertags ihren Aufenthalt haben, alle durchgeführten Freiheitsbeschränkungen melden. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bewohnervertretung kontrollieren dann, ob diese Beschränkungen im Sinne des Gesetzes zulässig sind. Darüber hinaus beraten sie die Betreuungseinrichtungen, welche anderen, weniger in die Grundrechte der Einzelnen eingreifenden Maßnahmen, ergriffen werden könnten. Kommt die Bewohnervertretung zum Schluss, dass eine Freiheitsbeschränkung nicht zulässig ist, dann kann sie dies gerichtlich überprüfen lassen.

Der Sammelband vermittelt anschaulich und eindrücklich, wie vielfältig die Tätigkeit der Bewohnervertretung ist und mit welch unterschiedlichen Personengruppen und Situationen sie dabei zu tun hat: Von Kindern mit Behinderungen in Sonderschulen oder Jugendlichen in  sozialpsychiatrischen Einrichtungen über Menschen, die aufgrund eines Unfalls Mitte 50 in einem Pflegeheim landen, weil sie sonst die notwendige Unterstützung nicht erhalten können, bis hin zu älteren Menschen mit Demenzerkrankung oder solchen, die aufgrund einer Beeinträchtigung den Großteil ihres Lebens mit Fixierungen verbracht haben und sich von diesen erst sehr langsam entwöhnen können.

In 15 Texten, die Mitarbeitende der Bewohnervertretung konsequent mutig aus der Perspektive der betroffenen Kinder und Erwachsenen verfasst haben, wird diese Bandbreite direkt persönlich und sehr alltagsnah für die Leserschaft gut verständlich und nachvollziehbar. Alle Geschichten beruhen auf konkreten, von der Bewohnervertretung begleiteten Fällen, die für die Veröffentlichung selbstverständlich stark anonymisiert wurden. Auch die Bewohnervertretung selbst taucht in Schilderungen auf, meist als freundliche Besuchende, was an einigen Stellen etwas plakativ wirkt. Allen Geschichten ist gemein, dass die konkrete Freiheitsbeschränkung entweder ganz beendet oder zumindest reduziert wird. In jedem Fall kommt es zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität für die betroffenen Kinder und Erwachsenen in den Einrichtungen.

In Pflegeheimen kommt es zu einem Verlust der persönlichen Freiheit.
Foto: www.corn.at Heribert CORN/derstandard

Therapeutische Notwendigkeit versus Freiheitsrechte

Die 15 Texte zeigen darüber hinaus aber auch deutlich, wie viel Verlust an persönlicher Freiheit mit der Übersiedlung oder dem Aufenthalt in einer Betreuungseinrichtung verbunden ist, und wie selbstverständlich die Erwartung ist, dass sich Menschen mit Unterstützungsbedarf an die vorgegebenen Regeln und Gegebenheiten anpassen. Betreuungseinrichtungen bergen die Gefahr von überbordenden, rigiden Regeln und unveränderlich vorgegebenen Strukturen, denen ein einzelner Mensch mit Unterstützungsbedarf völlig ausgeliefert ist, und die auch mit dem Argument der therapeutischen Notwendig legitimiert werden können.

Das macht ein aktueller Bericht von Erich Wahl, Leiter der Bewohnervertretung für Salzburg und Tirol, und Elke Mayerhofer deutlich, der die gängige Praxis in einigen Einrichtungen für Menschen mit Autismus, die nach der sogenannten Muchitsch-Methode arbeiten, massiv kritisiert. Er schreibt, „dass körperliche Zugriffe, Fixierungen am Boden, versperrte Zimmer, Handfixierung mit Gurten und der Einsatz sedierender Psychopharmaka sowie die Androhung dieser Maßnahmen in einem weit überdurchschnittlichen Maß vorgenommen werden“. Dies führt zum „Bild einer totalen Institution mit weitgehender Vorschreibung der Alltaggestaltung, Kontrolle und Intervention sowie sozialer Isolierung auf das engste Umfeld“. Solch ein Vorgehen steht im Widerspruch zu Grundrechten, die in der österreichischen Verfassung verankert, und in der UN-Behindertenrechtskonvention spezifisch für Menschen mit Behinderungen ausdifferenziert und erläutert werden.

„Dass aber die Freiheit auch von Menschen mit psychischer Erkrankung oder intellektueller Behinderung prioritär – also als wichtiges Gut – gesehen wird, ist eine Einsicht, die sich in unserer Gesellschaft erst in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt hat“, stellt der Jurist Gerhard Hopf einleitend im oben beschriebenen Sammelband fest. Sowohl die darin gesammelten Geschichten als auch der aktuelle Beitrag von Erich Wahl machen deutlich, dass es für die Absicherung der persönlichen Freiheit von Menschen in Einrichtungen auch abseits von Corona konsequent Kontrolle von außen braucht. (Petra Flieger, 4.2.2021)

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