Die russischen Sicherheitskräfte gingen in St. Petersburg und dutzenden anderen Städten mit einem massiven Aufgebot gegen Demonstrantinnen und Demonstranten vor.

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Als im Osten Russlands am Sonntag die ersten Proteste begannen, war es im Moskau erst fünf Uhr früh. Den Anfang machte Wladiwostok, etwa 6.500 Kilometer Luftlinie und sieben Zeitzonen von der Hauptstadt entfernt. Videos zeigten, wie zumeist junge Menschen auf der zugefrorenen Amurbucht am Ufer der 600.000-Einwohner-Stadt "Putin ist ein Dieb" und "Freiheit für Russland" skandierten. Laut Angaben von Aktivisten wurden dabei mehr als 100 Personen verhaftet.

Stunde um Stunde folgten weitere Kundgebungen für den inhaftierten Kreml-Kritiker Alexej Nawalny – und weitere Verhaftungen. In Nowosibirsk und Krasnojarsk etwa sollen ebenfalls jeweils knapp 100 Menschen festgenommen worden sein. In Nowosibirsk, der mit 1,6 Millionen Einwohnern drittgrößten Stadt Russlands, gingen nach Berichten unabhängiger Medien bei Temperaturen von minus 20 Grad immerhin mehr als 5000 Menschen auf die Straße.

Unmut im ganzen Land

Dass sich der Unmut über Präsident Wladimir Putin nicht mehr auf eine urbane liberale Schicht in Moskau beschränkt, sondern längst das ganze Land erfasst hat, macht die Kreml-Führung offensichtlich nervös. Und zwar weitaus nervöser, als es ihren für gewöhnlich abwiegelnden Worten über die Bedeutung des Oppositionellen Nawalny entspricht: Während im Laufe des Sonntags die Proteste immer weiter nach Westen schwappten, wurden in der Hauptstadt bereits hektische Vorkehrungen getroffen, um die nicht genehmigten Kundgebungen so gut es geht einzudämmen.

Das Zentrum der Metropole rund um den Kreml wurde weitgehend abgeriegelt, mehrere Metro-Stationen wurden geschlossen. Demonstranten sollten daran gehindert werden, zum geplanten Versammlungsort beim Sitz des Inlandsgeheimdienstes FSB zu gelangen. Selbst der Präsident des Offiziersverbands der Spezialeinheit "Alfa" Alexej Filatow nannte die Sicherheitsvorkehrungen "beispiellos" und sagte schon im Vorfeld der Protestveranstaltung ein härteres Vorgehen der Beamten gegen die Demonstranten voraus. Tatsächlich ging die Polizei von Beginn an härter gegen diese vor als noch vor einer Woche.

Aber auch die Opposition zeigte sich vorbereitet: Nawalnys Team, das zu den Kundgebungen aufgerufen hatte, brachte kurzfristig neue Versammlungsorte ins Spiel. Kolonnen, die auf das Stadtzentrum marschierten, bildeten sich so an Dutzenden Standorten, womit auch die Polizei dazu gezwungen wurde, ihre Kräfte zu zerstreuen. Ähnliche Szenen gab es auch in St. Petersburg und zahlreichen weiteren Städten.

Nawalnys Ehefrau kurz festgenommen

Die vorläufige Bilanz am Sonntagabend: Bei den Kundgebungen in rund 140 Städten wurden insgesamt mehr als 5.000 Menschen festgenommen – davon laut der Nichtregierungsorganisation OVD-Info über 1.600 allein in der Hauptstadt Moskau. Unter ihnen war nach Angaben von Nawalnys Team kurz auch dessen Frau Julia Nawalnaja.

Zwei Tage vor der Verhandlung über die Umwandlung der Bewährungsstrafe Nawalnys in eine reale Haftstrafe kann die Opposition damit einen symbolischen Erfolg verbuchen. Die hohe Anzahl der Festnahmen ist ein Beleg dafür, dass auch die Behauptung des Oligarchen Arkadi Rotenberg, er sei der eigentliche Besitzer eines Putin zugeschriebenen Luxuspalasts, die Protestbereitschaft nicht gesenkt hat.

Das Vorgehen der russischen Sicherheitskräfte hat auch einen diplomatischen Schlagabtausch zwischen Moskau und der neuen Führung in Washington unter Präsident Joe Biden ausgelöst. US-Außenminister Antony Blinken, erst seit Dienstag im Amt, hatte die "harte" Reaktion der russischen Behörden auf die Proteste verurteilt. "Wir erneuern unseren Aufruf an Russland, diejenigen freizulassen, die wegen der Ausübung ihrer Menschenrechte festgenommen wurden", schrieb Blinken auf Twitter.

Der Kreml warf den USA daraufhin "grobe Einmischung" in die inneren Angelegenheiten Russlands vor. Das Außenministerium in Moskau kritisierte zudem via Facebook die Verbreitung von Falschinformationen durch "von Washington kontrollierte Online-Plattformen". (André Ballin aus Moskau, Gerald Schubert, 31.1.2021)