Im Gastkommentar erklärt die grüne Politikerin Sibylle Hamann, "was man von uns erwarten kann und was nicht".

Ein Zeichen gegen die Abschiebepolitik setzten Donnerstagabend 1.000 Menschen vor dem Innenministerium. SPÖ-Jugend- und -Frauenorganisationen hatten zum Protest aufgerufen.
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"Aber ihr regiert doch jetzt", sagt die Freundin – "wer regiert, wird so etwas doch verhindert können!" "Ich hab euch nicht dafür gewählt, dass Kinder abgeschoben werden", sagt die Nachbarin. Oder, Kurzversion: "Es ist zum Speiben, ihr habt versagt!"

664.000 Menschen haben bei der letzten Wahl die Grünen gewählt. Als sich die überraschende Möglichkeit zum Regieren auftat, sagte die überwältigende Mehrheit von ihnen: "Ja, los, machts das!" Die Erwartungen an uns sind riesig. Unsere eigenen auch. Wir arbeiten hart, jeden Tag. Wir kämpfen. Doch wenn der Innenminister unserer Regierung in stockdunkler Nacht mit Polizeigewalt Schulkinder abschieben lässt, ohne dass wir es verhindern können, ist etwas schiefgegangen.

Tsunamis aus Wut und Enttäuschung

Was ist unser Anteil daran? Welche Erwartungen können wir erfüllen, welche nie und nimmer? Und wie kommen wir gleichzeitig zu einer menschlicheren Flüchtlingspolitik in Österreich? Inmitten des Tsunamis aus Wut und Enttäuschung hier der Versuch, die Verhältnisse zu sortieren.

1. Die Ausgangslage Die Mehrheitsverhältnisse in Österreich sind völlig eindeutig: Es ist ein konservatives Land mit einer stabilen Mehrheit rechts der Mitte. Den wenigen linken Ausnahmegestalten, die zeitweise eine Mehrheit hinter sich scharen konnten (Kreisky, Van der Bellen) gelang das nur, indem sie Konservative überzeugten, ein Stück des Weges gemeinsam zu gehen. Im Parlament bildet sich das deutlich ab: SPÖ, Grüne und Neos sind die Minderheit (wär’s anders, hätten wir eine andere Regierung). Eine solide Mehrheit aus ÖVP und FPÖ hingegen befürwortet einen harten Antiflüchtlingskurs.

Kaltes Kalkül

Der Kanzler scheint dabei weniger von inneren Überzeugungen getrieben als von kaltem Kalkül: Hauptziel ist, das Land im Krisen- und Abwehrmodus zu halten und damit hunderttausende ehemalige FPÖ-Wähler an sich zu binden. Dafür braucht er in regelmäßigen Abständen jene Bilder, "ohne die es nicht gehen wird": erst die Bilder der Bedrohung (Menschenmassen, Kontrollverlust), dann die Bilder von Abwehr und Härte (Zäune, Polizei). Solange das funktioniert – abzulesen an Umfragen unter seinen Wählerinnen und Wählern –, wird er das weiter so machen. Wie es jenen gefällt, die ihn nicht gewählt haben, ist innerhalb dieser Logik relativ egal.

2. Wie ändern wir das? Diese Kräfteverhältnisse verschieben wir sicher nicht, indem Grüne, SPÖ und Neos aufeinander herumhacken, im Versuch, einander zu beweisen, wer es immer schon besser gewusst hat und auf der moralisch überlegenen Seite steht. Einander reihum Wählerinnen und Wähler abzujagen ändert an den Mehrheitsverhältnissen im Land keinen Millimeter.

Aber sonst?

Genauso wenig ändern würde es, wenn wir Grüne jetzt tun, was viele von uns verlangen: den Hut draufhauen und die Koalition aufkündigen. Besser fühlen würden wir uns sofort, keine Frage. Weniger anstrengend wäre unser Leben ebenfalls. Aber sonst? Keinem einzigen Flüchtling wäre damit geholfen. Wer irgendwo am Horizont Anzeichen für einen Erdrutsch sieht, der Österreich plötzlich eine linke Mehrheit bescheren könnte – bitte melden! Ich kann beim besten Willen nichts davon erkennen. Eher würde ein Regierungssturz dem Kanzler bescheren, was er ohnehin stets am liebsten hat: Einen Ausnahmezustand, den er nützen kann, um sich wieder als Retter anzubieten.

Als einzige strategische Option bleibt da im Moment: Die ÖVP muss sich bewegen. Aus der rechtsautoritären Ecke herauskommen, in die Mitte zurück.

3. Wie bewegen wir die ÖVP? Ja, wir Grüne müssen ab sofort noch viel klarer Kante zeigen, was unsere Überzeugungen betrifft, und uns von der ÖVP abgrenzen. Das tut nicht nur uns, sondern auch der gesamtgesellschaftlichen Atmosphäre gut. Aber bewegen wir damit die ÖVP in der Asylfrage vom Fleck? Nein. Dieser Druck kann nur von innen kommen – von jenen vielen, vielen Ortsgruppen, Vereinen und Persönlichkeiten, die in der ÖVP christlichsozial denken. Das sind Pfarrer, Wirtsleute, Unternehmerinnen, Schuldirektorinnen, Bürgermeister – Menschen, die die gute konservative Tradition des Ehrenamts hochhalten. Die Verantwortung übernehmen, an einem guten Miteinander interessiert sind. Es sind häufig dieselben, die mit beiden Händen angepackt haben, als Flüchtlinge vor der Tür standen und Hilfe brauchten.

Viele von diesen Menschen haben Sebastian Kurz zum Kanzler gewählt. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie wollen, dass hier aufgewachsene Kinder nachts aus dem Bett geholt und abgeschoben werden. Genauso wenig, wie sie verstehen, warum die Polizei ihren Lehrling von der Werkbank oder aus der Gasthausküche abholt und nach Afghanistan zurückschickt.

Keine demonstrative Härte

Genau diese ÖVPler müssen ihrem Parteichef klarmachen, dass sie keine "schrecklichen Bilder" und keine demonstrative Härte brauchen, um zu wissen, wo sie politisch hingehören. Dass sich ihre Parteiführung in der falschen Ecke verbarrikadiert. Dass es sich auszahlt, einen Schritt zurück in die Mitte zu gehen, damit es möglich ist, die Koalition mit uns weiterzuführen.

Nüchtern kalkuliert ist das im Moment der einzige Weg, der zu einer menschlicheren Asylpolitik führen kann. (Sibylle Hamann, 1.2.2021)