Antriebslos, leer, alleine: Die Pandemie macht auch jungen Menschen oft schwer zu schaffen.

Foto: Heribert Corn

Es sei nur schwer auszuhalten. Die Tochter weine den halben Tag in ihrem Zimmer, fühle sich schulisch überfordert, sei gleichzeitig antriebslos und leer, berichtet ein besorgter Vater.

Die Jugendlichen im Bekanntenkreis, das eigene Kind mit eingeschlossen, hätten keinen geregelten Tagesablauf mehr, der Übergang von Tag und Nacht sei nur noch schwimmend – entsprechend schwer falle das Aufstehen in der Früh, schreibt eine beunruhigte Mutter. Serienmarathons, ständiges Social-Media-Scannen und Computerspiele würden das Ihre beitragen zu verstärkter Gereiztheit, Rückzug und dem schwindenden Interesse an sozialen Kontakten.

Mediziner berichten von jungen Menschen mit Essstörungen, Ängsten, depressiven Symptomen bis hin zu handfesten Depressionen. Das beginne oft schon früh, mit zwölf Jahren aufwärts. Auch würden derzeit verstärkt Familien Hilfe suchen, die normalerweise nicht zur Hauptrisikogruppe zählten.

Laut einer aktuellen Studie des Departments für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Uni Krems in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband für Psychotherapie leidet aktuell bereits mehr als die Hälfte der jungen Menschen zwischen 18 und 24 Jahren unter depressiven Symptomen. Der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH) warnte vor kurzem öffentlich, dass vermehrt Jugendliche mit schweren Symptomen an die Abteilung kämen. Man sei überlastet.

Kerngesund, verzweifelt

Frau X wähnte sich bis vor kurzem als Mutter eines "kerngesunden Sechsjährigen, Einzelkind", schreibt sie. Bis sie vor wenigen Wochen den psychosozialen Notdienst rufen musste, weil sich das, was sie bisher als "Spinnereien" während einer schwierigen Phase abgetan hatte, plötzlich zu richtigen Ticks und Zwangshandlungen entwickelte. "Die Hände müsse man ihm ständig von allen Seiten fotografieren, bevor er wieder etwas angreifen kann, alternierend mit Händewaschen", schildert Frau X, die dem STANDARD mit vollem Namen bekannt ist, auf Nachfrage am Telefon. "Dazwischen Schrei- und Brüllattacken, wenn ein Foto nicht ganz so gelungen ist, wie es der junge Mann will." Irgendwann wollte der Bub nichts mehr essen und trinken, "weil er irgendwie Angst hat, etwas könnte die Lippen berühren", erzählt die Mutter. Seine verzweifelte Bitte: "Ich will, dass das aufhört!" Ihre verzweifelte Hoffnung: "dass es hoffentlich nur temporäre Zwänge sind", die sie nur teilweise auf eine gewisse familiäre Veranlagung zurückführt. "Hinzukommt die Unterforderung, der ständige Medienkonsum, der Corona-Frust", sagt Frau X, die von sich selbst behauptet, nicht übermäßig ängstlich im Umgang mit der Pandemie zu sein.

Psychiater Patrick Frottier vom Psychosozialen Dienst der Stadt Wien nennt drei gängige Verhaltensweisen, mit denen Menschen auf soziale Stressfaktoren reagieren: Die einen erstarren, womöglich bis hin zum kompletten Rückzug oder depressiven Symptomen. Die anderen fliehen – was angesichts von Ausgangsbeschränkungen und Co meist eine Flucht in Ersatzhandlungen ist. Als Alternative bleibt die Strategie des Angriffs, "sei es, indem wir mithilfe der Wissenschaft versuchen, einen Impfstoff gegen das Virus zu finden, oder indem Menschen wegen ihrer Ablehnung der Corona-Maßnahmen auf die Straße gehen", erklärt Frottier.

Vertrauen schaffen

Wenn es um Kinder und Jugendliche geht, hätten Eltern mit ihrer Reaktion auf die Situation eine erhebliche Vorbildwirkung, sagt der Psychiater: "Wir müssen Vertrauen schaffen!" Ängste nehmen. Statt von einer "verlorenen Generation" zu sprechen, hervorstreichen, was alles gerade an neuen Herausforderungen gemeistert wird. Solidarität und Zusammenhalt vorleben, statt andere Meinungen zu diskreditieren. Frottier: "Eine Traumastörung entsteht nicht nur durch ein Trauma alleine, sondern auch durch die Reaktionen darauf." Das gelte übrigens auch für die politische Kommunikation. Hier sei es wichtig, "keine Pläne anzukündigen, die ich nicht einhalten kann". Dieses "Nicht-Ende" der Pandemie führe sonst zu einem Glaubwürdigkeitsproblem, und "Kinder sind diesbezüglich sehr sensibel", weiß der Experte. Die Gefahr dabei: Das sei der Moment der "Verschwörungserzähler", denn "die lassen mit ihren ungeheuer einfachen Botschaften keine Zweifel offen".

Kreativer Unterricht

Mit den jungen Patientinnen und Patienten des vom ihm geleiteten kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulatoriums in Wien Hietzing arbeite er daran, möglichst viel Rhythmus und viele Rituale im Alltag zu etablieren. Er bemerke auch, dass jene Kinder, die Schulen mit regelmäßigem Unterricht besuchen – derzeit etwa eine Sonderschule -, "wesentlich stabiler" mit der angespannten Situation umgehen können. Heißt für den Distance-Learning-Alltag in anderen Schulformen: lieber weniger anbieten, das aber gesichert und geplant. Lieber regelmäßig die Schülerinnen und Schüler anrufen, als alle zusammen stundenlang per Videoformat zu unterrichten. Frottier findet: "Wir haben eine außergewöhnlich unbekannte Situation, die verlangt nach einem kreativen Umgang und nicht nach Festhalten am ewig Gleichen."

Frau X sagt, ihrem Sechsjährigen gehe es im Kindergarten meist etwas besser. Außerdem hat sich die Familie Hilfe gesucht – zunächst auf der psychiatrischen Kinderambulanz im AKH, dort haben die Ärzte den Kontakt zu einer niedergelassenen Psychologin organisiert. Zwar muss privat bezahlt werden, aber immerhin war ein wöchentlicher Fixtermin zu haben. Die eigenen Erfahrungen mit der anhaltenden Lockdown-Situation machen Frau X nachdenklich. Sie findet: "Wir schützen die eine vulnerable Gruppe auf Kosten der anderen. Unser Kind ist kein Einzelfall, alle leiden." Sie wünscht sich einen umfassenderen Blick auf den Gesundheitsschutz während der Pandemie.

Die eingangs zitierte Mutter sieht das übertragen auf den Schulbereich ähnlich: "Aus meiner Sicht sind die nicht erworbenen fachlichen Kenntnisse während der verlorenen Schulzeit unser geringstes Problem." (Karin Riss, 1.2.2021)