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Genuss an Rauchwaren und an kniffligen Fragen des Fortschritts: Bertolt Brecht (1898–1956), misstrauisch beäugtes Aushängeschild der DDR-Kultur, hier auf einer undatierten Aufnahme aus den 1950ern.

Foto: Ullstein Bild/picturedesk.com

Die Herstellung von Tonaufnahmen gehörte zu den Luxusproblemen der notorisch produktionsschwachen DDR-Wirtschaft. Für den Erwerb eines leistungsstarken Tonbandgeräts griff Bertolt Brecht tief in die eigene Tasche. Der Dramatiker hatte 1949 gemeinsam mit Helene Weigel das Berliner Ensemble begründet. Jetzt saß er, herzkrank, doch mit unvermindertem Genuss Zigarren paffend, im dunklen Proberaum. Gepuffert von Assistenten und Schülern, bastelte er hingebungsvoll an den "Modell"-Inszenierungen seiner eigenen Stücke.

Unaufhörlich animierte der Dramatiker seine Schauspieler zu höchster Präzision. Er machte, mit durchdringend lauter, ein wenig gepresster Stimme, Vorschläge. Ebenso ahndete der große "BB" unbarmherzig falsche oder halbherzige Töne. Stimmvolumina wie dasjenige seines Galilei-Darstellers Ernst Busch – immerhin ein erprobter kommunistischer Caruso – übertraf Brecht, Reformator eines allzu laxen Betriebs, mit Leichtigkeit.

Nachhören lässt sich der stark süddeutsch eingefärbte Schwanengesang des womöglich einflussreichsten deutschen Theaterkünstlers von vor 70 Jahren auf einer CD-Edition, die aus lauter Originaltonaufnahmen besteht. Stephan Suschke, heutiger Schauspielchef am Linzer Landestheater, hat die Schätze, rund zwei Stunden Probenbetriebsamkeit von 1955/56, aus dem Archiv der Akademie der Künste, Berlin, geborgen. In ein Leinenklappbuch geheftet, gleichen die Aufnahmen zu "Leben des Galilei" einer obskuren Flaschenpost: adressiert an unterweisungsbedürftige Nachgeborene.

Zehn Monatsgehälter

Kostspielig war, wie eingangs erwähnt, der Flascheninhalt. Für eine ausreichende Anzahl von Tonbandmetern musste man damals den Gegenwert von zehn Monatsgehältern (einer Sekretärin) entrichten. Weder BE noch die Theatersektion der Akademie waren zu dieser Investition ursprünglich bereit. In seiner Not tat Hans Bunge, der hauszuständige Dramaturg, einen beherzten Griff ins Archiv. Er löschte bzw. überspielte Aufnahmen von "Der kaukasische Kreidekreis".

Das vorliegende Galilei-Material umfasst in seiner Gänze knapp 100 Stunden; ein nicht geringer Teil davon besteht aus Proben, mit denen Regisseur Erich Engel das Werk des am 14. August 1956 überraschend verstorbenen Brecht vollendete.

So erklärt sich hinlänglich der Untertitel, den Suschke für seine Dokumentation ausgewählt hat: "Ein Mann, der keine Zeit mehr hat". Galilei hatte in der Beobachtung der Himmelskörper die kopernikanische Wende vollzogen. In seinem zögerlichen Einstehen für die als unumstößlich erkannte Wahrheit wird das Dilemma des modernen Intellektuellen sichtbar. Er muss mit List und Täuschung arbeiten. Beide Techniken, unentbehrliches Zubehör für den Überlebenskampf, gehörten zur Grundausstattung des Exilkünstlers Brecht. Stalin nannte er noch ganz am Schluss einen "verdienten Mörder des Volkes".

Galileo Galilei hat, kein geringes Dilemma, den Anblick der Folterwerkzeuge, vorgezeigt durch die Büttel der Kirche, zu verdauen. Recht behält er, der bei Brecht demonstrativ dem Wohlleben zugeneigt ist, ohnehin nicht um seiner selbst willen. Sinn ergibt die gewundene Argumentationslinie des mit dem Scheiterhaufen Konfrontierten dadurch, dass jede Form der Erkenntnis "die Mühseligkeit der menschlichen Existenz" von Grund auf zu erleichtern habe.

Als Regisseur gleicht Brecht einem Pädagogen, der seinen Schützlingen die Angst vor der genussreichen Tätigkeit des Denkens nehmen möchte. Bürgerlich sind seine strikt höflichen Umgangsformen. Die vielen Dekorationen auf der Bühne wüsste er am liebsten im Handumdrehen entsorgt.

Sinnfällige Kunst

Brechts "episches Theater" lebt von der Sinnfälligkeit der Darstellung. Wessen Spiel allzu gekünstelt daherkommt, den macht "BB" sofort auf die Bedürfnisse des Publikums aufmerksam: "Sie, Herr Busch, sind nicht dazu da, den Zuschauern auf der Galerie Astronomie zu erklären!" Wenn Galilei dem Scheiterhaufen bedrohlich näherrückt, kommentiert Brecht die Sachlage ohne Umschweife: "Sie haben ihn gewarnt vor Verbrennungsangelegenheiten!"

Ihre Contenance verliert Brecht, diese Sphinx einer ehemals neuartigen Vernunft, kaum jemals. Es sei denn, ein Probender tritt nach Verrichtung seines Auftritts grußlos von der Bühne ab und verlässt den Raum, während die anderen weiterspielen. Brecht geht unvermittelt hoch wie eine Tellermine. "Das ist eine Maurer-Einstellung! Geht gar nicht! Das war bei uns noch nie Sitte!" Die Premiere von "Das Leben des Galilei" fand ohne ihren Schöpfer am 15. Jänner 1957 statt. Das ruhmreiche BE verwandelte sich daraufhin rasch in ein Brecht-Museum. (Ronald Pohl, 3.2.2021)