Der Arktische Ozean war in den vergangenen 150.000 Jahren mindestens zweimal flächendeckend von mehr als 900 Meter dickem Schelfeis bedeckt.
Foto: APA/AFP/Mario Tama

Bremerhaven – Die Region rund um den Nordpol hat sich in der Vergangenheit teilweise grundlegend verändert. Nach aktuellen Erkenntnissen deutscher Forscher war der Arktische Ozean in den vergangenen 150.000 Jahren mindestens zweimal komplett von einem annähernd kilometerdicken Eispanzer bedeckt. Darunter bestand er aus reinem Süßwasser. Das fanden Wissenschafter des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts (AWI) und des Zentrums für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen durch geowissenschaftliche Analysen heraus.

900 Meter unter der Eisoberfläche

Demnach reichten schwimmende Ausläufer der Eispanzer auf den Kontinenten während der sogenannten Saale-Eiszeit vor 150.000 bis 130.000 Jahren und zu Zeiten der Weichsel-Eiszeit vor 70.000 bis 60.000 Jahren bis in das Nordpolarmeer. Unter den mehr als 900 Meter dicken Schichten reicherte sich mit der Zeit ausschließlich Süßwasser an, wie die Forscher in der Fachzeitschrift "Nature" berichteten. Dies zeigten Analysen der Sedimente am Meeresboden.

Bisher fehlten wissenschaftliche Erkenntnisse über die Ausdehnung der eiszeitlichen Eisschilde im Arktischen Ozean. So heißt das mehr als 15 Millionen Quadratkilometer große Meeresgebiet, das sich nördlich von Kanada, Skandinavien und Russland erstreckt und die gesamte Nordspitze der Erde bedeckt. Grundlage der neuen Erkenntnisse sind geologische Analysen von zehn Sedimentkernen aus verschiedenen Gebieten des Arktischen Ozeans sowie aus der Framstraße und dem Europäischen Nordmeer. Die übereinandergeschichteten Sediment-Ablagerungen bilden die arktische Klimageschichte der zurückliegenden Eiszeiten ab.

Thorium-230 fehlt

Als die Geowissenschafter die Kerne jedoch Schicht für Schicht untersuchten, fehlte bei allen in den jeweils gleichen zwei Zeiträumen ein entscheidender Anzeiger. "Im salzhaltigen Meerwasser entsteht durch den Zerfall von natürlichem Uran immer das Isotop Thorium-230. Es lagert sich am Meeresboden ab und ist dort wegen seiner Halbwertzeit von 75.000 Jahren auch für sehr lange Zeit nachweisbar", erläutert Erstautor Walter Geibert vom AWI.

Die künstlerische und höhenmäßig gezerrte Darstellung zeigt einen Blick aus den Tiefen des glazialen Ozeans in Richtung Island und den Färöer-Inseln. Im Vordergrund befindet sich Jan Mayen, rechts Grönland. Die schmalen Durchlässe werden von einem Eispanzer verengt.
Illustr.: Martin Künsting

Geologen nutzen das Thorium-Isotop deshalb als natürlichen Zeitmesser. "Diesmal aber gibt uns sein wiederholtes und vor allem weit verbreitetes Fehlen den alles entscheidenden Hinweis. Die einzig plausible Erklärung dafür ist unseres Wissens nach, dass der Arktische Ozean zweimal in seiner jüngeren Geschichte nur mit Süßwasser gefüllt war – in flüssiger und in gefrorener Form", sagt Jutta Wollenburg, ebenfalls vom AWI.

Um 130 Meter niedrigerer Meeresspiegel

Wie aber kann ein Ozeanbecken, welches über mehrere Wasserstraßen mit dem Nordatlantik und dem Pazifischen Ozean verbunden ist, sich nur mit Süßwasser füllen? Ein solches Szenario sei denkbar, wenn man davon ausgeht, dass der globale Meeresspiegel während der Eiszeiten bis zu 130 Meter tiefer lag als heute und die Schelfeise auf dem Arktischen Ozean den Austausch der Wassermassen bremsten, meinen die Wissenschafter.

Flache Meerengen wie die Beringstraße oder aber die Sunde im kanadischen Archipel waren damals trockengefallen und schieden als Zu- und Abfluss aus. Im Europäischen Nordmeer blockierten vermutlich Eisberge oder aber auf dem Meeresboden aufliegende Gletscherzungen den Abfluss.

1.200 Kubikkilometer Süßwasser pro Jahr

Zeitgleich aber trugen fließende Gletscher, die sommerliche Eisschmelze und nach Norden verlaufende Flüsse mindestens 1.200 Kubikkilometer Süßwasser pro Jahr in den Arktischen Ozean ein. Ein Teil dieser Wassermenge strömte vermutlich nur durch wenige tiefe Gräben im Grönland-Schottland-Rücken über das Europäische Nordmeer in den Nordatlantik und hinderte auf diese Weise Salzwasser daran, nach Norden vorzudringen. Infolgedessen füllte sich der Arktische Ozean nach und nach mit Süßwasser.

"Sowie dieser Mechanismus der Eisbarrieren aber versagte, konnte das schwere Salzwasser wieder in den Arktischen Ozean eindringen", sagt Geibert. "Wir glauben, dass es dann bei seinem Einstrom das leichtere Süßwasser rasch nach oben verdrängte, sodass sich die gespeicherten Süßwassermengen ab einem gewissen Punkt über den flachsten Rand des Europäischen Nordmeeres, den Grönland-Schottland-Rücken, in den Nordatlantik ergossen."

Vereinfachte Darstellung des Arktischen Ozeans und eines eiszeitlichen Eisschilds.
Illustr.: Alfred Wegener Institute/Martin Künsting

Antworten auf einige Fragen

Der Denkansatz, dass riesige Süßwassermassen im Arktischen Ozean gespeichert waren und zu bestimmten Zeitpunkten rasch freigesetzt wurden, würde helfen, eine Vielzahl bekannter Klimaphänomene aus der Vergangenheit besser miteinander in Einklang bringen. "Überreste alter Korallenriffe beispielsweise deuten darauf hin, dass der Meeresspiegel in bestimmten Kaltzeiten höher lag, als Daten aus antarktischen Eisbohrkernen und den Kalkschalen fossiler Meeresorganismen annehmen lassen", sagt Geibert.

"Wenn wir nun aber abrücken von unserer alten Vorstellung, dass in Eiszeiten große Mengen Süßwasser nur in Form von Gletschereis an Land gespeichert waren, und stattdessen berücksichtigen, dass sich ein Teil dieses Süßwassers im Arktischen Ozean befunden haben könnte, dann passen die neu abgeleiteten Meeresspiegelhöhen besser zu den Standorten der alten Korallenriffe", erklärt der Wissenschafter.

Ursache für abrupte Klimaschwankungen?

Süßwasser-Pulse aus dem Arktischen Ozean könnten außerdem als Erklärung für abrupte Klimaschwankungen während der letzten Eiszeit dienen. Wie man mittlerweile weiß, hatte sich in dieser Zeit die Temperatur über Grönland mehrere Male innerhalb weniger Jahre um 8 bis 10 Grad Celsius erhöht und war anschließend erst Hunderte Jahre später zum normalen kalten Eiszeitniveau zurückgekehrt. "Wir sehen hier, dass es auch in der jüngeren Erdgeschichte entscheidende Kipppunkte des Erdsystems rund um die Arktis gab. Unsere Aufgabe ist es jetzt, diese Zusammenhänge genauer zu untersuchen und zu überprüfen, ob unsere neue Vorstellung vom Arktischen Ozean hilft, weitere Wissenslücken zu schließen, gerade auch in Bezug auf die Risiken des menschengemachten Klimawandels", so Geibert. (red, APA, 4.2.2021)