Die Krise hat Lieferdienste beflügelt. Die Arbeitsbedingungen der Kuriere sind hart umstritten.

Foto: Mjam

Wien – Weite Teile des Handels und der Gastronomie stehen still. Manche Akteure sind jedoch stärker denn je in Bewegung – und mit ihren grünen Rucksäcken aus vielen Städten nicht mehr wegzudenken: 2.000 Fahrradkuriere radeln für das Essensportal Mjam österreichweit um die Wette. Gewerkschafter sehen die Zusteller als moderne Tagelöhner, die mit Hungerlöhnen abgespeist werden. Doch der Zustrom in die prekären Arbeitsverhältnisse der Branche ist ungebrochen. Zu sehr haben die monatelangen Lockdowns ihr Geschäftsmodell beflügelt.

Geht es nach Artur Schreiber, tummeln sich künftig noch mehr Boten auf zwei Rädern in den Straßen. Der gebürtige Berliner führt die Radlflotte als ihr CEO an. Dieser Tage steigt er ins Wiener Online-Supermarktgeschäft ein. Rewe machte sich in Österreich als Erster im digitalen Lebensmittelhandel breit, gefolgt von Spar. Kleine Anbieter wie Alfies und Gurkerl versuchen ebenso ihr Glück. Andere Start-ups mussten mangels Erfolges wieder abziehen – noch ehe sich der Onlineriese Amazon frischer Lebensmittel großflächig annehmen wird.

Letzte Meile als tägliches Brot

Schreiber lässt sich davon als Nachzügler nicht abschrecken. Sein tägliches Brot sei die letzte Meile, an der viele Mitbewerber scheiterten, sagt er. "Mjam hat aus dem Restaurant-Geschäft gelernt, innerhalb einer halben Stunde zuzustellen." Basis seiner Lebensmittel-Zustellung ist ein früherer Asia-Markt in Rudolfsheim-Fünfhaus.

Weitere Lager sollen folgen. Schreiber hofft zudem auf externe Partner wie Tankstellen, mit denen er bereits kooperiert. Große Supermärkte bis hin zu Elektrohändlern schweben ihm vor, die den Dienst seiner Kuriere in Anspruch nehmen könnten. Carrefour lebe dies international vor. Allein die Österreicher übten sich noch in Zurückhaltung.

Wie balancieren Mjam-Kuriere freilich ganze Wocheneinkäufe mitsamt Bierkisten auf ihren Rädern? Schwere sperrige Güter seien nicht das Gros der Aufträge, ist sich Schreiber sicher. Wobei für diese auch Cargobikes, Elektromopeds oder zwei Fahrer parat stehen würden.

Die Liefergebühr orientiere sich an Distanz wie Größe des Einkaufs und soll den Rahmen von vier Euro nicht sprengen. Mit den Preisen der Konkurrenz fürs Vollsortiment mitzuhalten, sei eine Herausforderung, räumt der Mjam-Chef ein. "Aber die Erfahrung aus anderen Ländern zeigt, dass wir das profitabel hinbekommen."

Rotes Tuch für Gewerkschafter

Dass seine Branche ein rotes Tuch für viele Arbeitnehmervertreter ist, die vor systematischer Ausbeutung warnen, nimmt Schreiber gelassen. "Wir sind in einem Niedriglohnsektor und bieten keine qualifizierte Ausbildung. Die einzige Voraussetzung für den Job ist, radeln zu können." Daraus mache er keinen Hehl. Der durchschnittliche Lohn liege jedoch bei zwölf Euro die Stunde, und manche fuhren sogar bis zu 16 Euro ein.

Mjam-Chef Artur Schreiber: "Sollen wir von den Gastronomen mehr verlangen?"
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Auch Deutschkenntnisse seien nicht nötig. Schreiber erinnert an zahlreiche Migranten, die für ihn arbeiten. "Viele finden keine anderen Jobs, für sie sind wir der Einstieg ins Arbeitsleben." 90 Prozent der Kuriere sind freie Dienstnehmer, für die es weder Urlaub noch Weihnachtsgeld spielt. "Alle Fahrradboten fix anstellen? Das wäre der Tod der Branche", sagt Schreiber, "damit würden alle zu Verlierern werden." Der Mjam-CEO spricht von enormen Mehrkosten, die auf die Restaurants und deren Kunden übergewälzt würden. "Sollen wir von den Gastronomen mehr verlangen? In Zeiten wie diesen keine gute Idee."

Hohe Fluktuation

Schreiber versichert, dass keiner seiner Leute dazu gezwungen werde, auf eine Anstellung zu verzichten. Er suche sogar "händeringend" nach Fahrern, die sich darum bewerben. "Aber den meisten geht es nicht ums 13. und 14. Gehalt, sondern um volle Flexibilität. Sie wollen selbst entscheiden, wann sie wie viel arbeiten." Drei Monate seien die meisten seiner Boten im Schnitt im Einsatz, der betriebliche Prozess sei auf hohe Fluktuation ausgelegt.

Was hat es mit dem hart kritisierten Bewertungssystem auf sich, das Fahrer um lukrative Schichten kämpfen lässt? Schreiber betont, dass es auf Wunsch seiner Leute hin entstanden sei, da sich einzelne Boten immer wieder für gute Schichten meldeten, ohne sie tatsächlich zu besetzen. "Für die Bewertung zählen jedoch nicht Schnelligkeit und die Zahl der Bestellungen, sondern einzig und allein Zuverlässigkeit."

"Kein Spielraum"

Mjam kassiert von den Wirten für jede Lieferung 30 Prozent des Bestellwerts. Von 30 Euro für ein geliefertes Essen fließen also neun Euro an die Online-Plattform. Das höre sich nach viel an, sagt Schreiber, doch das Geschäftsmodell sei eng kalkuliert und schwer profitabel zu führen. "Wir haben keinen Spielraum." (Verena Kainrath, 4.2.2021)